Der Frühstücksraum des Hotels dürfte gerne etwas größer sein, man tritt einander ständig auf die Füße, das Frühstück selbst ist jedoch reichhaltig und schmackhaft. Frisch gestärkt treten wir den Weg nach Karlstejn an. So heißt die Burg vor den Toren Prags, die heute Weltkulturerbe ist, und die wir auf eigene Faust erkunden wollen. Ein paar Zugverbindungen haben wir bereits herausgesucht, und da es sich um ein Flexticket handelt, müssen wir auch nicht zu einer bestimmten Uhrzeit am Bahnhof sein – man kann die Wegzeit vom Hotel dorthin ja auch nicht so genau einschätzen. Zudem wissen wir auch noch gar nicht, von welchem Gleis der Zug abfährt, denn das steht weder im Fahrplan noch auf dem Ticket. Aha, deswegen stehen hier immer so viele Leute vor der großen Anzeigetafel in der Bahnhofshalle. Unser Zug fährt in genau drei Minuten vom Gleis 1a. Aber wo ist das? Wir hasten zur Unterführung und, dem Wegweiser nach 1a folgend, die erste Treppe hinauf. Dort gibt es aber nur ein Gleis 1 mit einem Zug voller gähnender Leere. Kann das unser Zug sein? Wir steigen ein, treffen eine Zugbegleiterin und erfahren von ihr, dass der Zug nach Karlstejn soeben von 1a, also ganz weit hinten außerhalb des Bahnhofsgebäudes, abgefahren ist. Pech gehabt! Jetzt heißt es eine knappe Stunde warten, und wir setzen uns gemütlich auf eine Bank am Gleis 1a, wo wir hin und wieder einen Blick auf die jetzt leere Bahnsteigtafel werfen. Dass sie leer bleibt, irritiert uns. Vielleicht fährt unser Zug ja doch von einem anderen Gleis? So ist es, die Abfahrtsgleise werden hier nämlich flexibel gehandhabt.
Die berühmte Burg befindet sich auf einem Bergsporn außerhalb des gleichnamigen Ortes. Und auch der Bahnhof liegt außerhalb, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Wir müssen ein Stück an den Schienen entlang, dann auf einer Autobrücke über den Fluss, von dort durch den stark touristisch geprägten Ort und am Ende noch einen steilen Fussweg hinauf. Für die große Führung durch alle erschlossenen Räume braucht es eine Vorausbuchung, und wir hatten mit einer Dame, die immer nur einmal pro Tag antwortet, vorab eine lange Korrespondenz geführt, an deren Ende es dann doch nicht nur einen, sondern zwei freie Plätze gab. Auf meine Zusage hin erhielt ich aber keine Antwort mehr, und prompt stehen wir auch nicht auf der Buchungsliste. Zum Glück ist aber noch eine Platz frei, und da ich die bewußte Korrespondenz ausgedruckt vorlegen kann, gesteht man uns auch noch den zweiten zu.
Die leider englischsprachige Führung, eine deutsche wäre uns lieber gewesen, ist ausführlich und gut verständlich, zumal der Führer sorgfältig darauf achtet, dass alle 17 Personen im Raum sind, ehe er zu seiner Erklärung ansetzt. Wir stehen in einer Kapelle, die im Laufe ihrer Geschichte zahlreiche Umbauten erfahren hat, unter anderem war eine Wand entfernt worden und die Fresken der übrigen drei übermalt. Das alles hat man wieder rückgängig gemacht, so dass die originalen Fresken heute wieder sichtbar sind und das angeblich doch so finstere Mittelalter in überraschender Buntheit zeigen.
Der Burgturm ist vom Hauptgebäude aus nur über eine gedeckte hölzerne Brücke erreichbar. Im Inneren liegen, wie sollte es bei einem Turm auch anders sein, mehrere Räume übereinander, von denen wir nun den untersten betreten. Drinnen ist es aufgrund der bis zu sieben Meter dicken Mauern auffällig kalt, der Führer nennt den Raum den „Kühlschrank der Burg”. In der Ecke liegt ein großer Haufen steinerner Kugeln, die großen waren wohl für Katapulte und die kleineren für Kanonen gedacht. Über ein Treppenhaus mit einigermaßen gut erhaltenen Fresken geht es nun Etage für Etage hinauf, bis wir ganz oben quasi den Himmel betreten. Und weil der Raum unter dem Dach von so überwältigendem Zauber ist, hatte der Führer uns vorab gebeten, zunächst ein paar Minuten Minuten Stillschweigen zu bewahren: über die Kapelle spannt sich eine vollständig vergoldeten Decke, bestehend aus hunderten kleiner Halbschalen, dazwischen eine Sonne und ein silbriger Mond. Die Wände des Raumes sind lückenlos mit Heiligenporträts bedeckt. Hier oben wurden dereinst die Reichsinsignien aufbewahrt. Das Holzgitter zum Altarraum soll ebenfalls vergoldet gewesen sein, heute ist aber erstens nichts mehr übrig, was unbeobachtet abgekratzt werden könnte, und es gibt zweitens eine dezent versteckte Videoüberwachung, was dem Zauber aber keinen Abbruch tut.
Wieder unten angekommen, genießen wir bei einem frisch gezapften Pilsner Urquell noch ein wenig die Aussicht und treten dann die Rückfahrt an, um uns im Hauptbahnhof bei einem Vietnamesen zu stärken und daran anschließend noch einen weiteren, diesmal bedeutend kürzeren Ausflug zu gönnen: wir wollen den Friedhof von Vyšehrad besuchen, wo die Komponisten Smetana und Dvořák ihre letzte Ruhestätte haben.
Von der Metrostation „Vyšehrad” an der roten Linie hinüber zur markanten doppeltürmigen Kirche ist es ein Fußweg von einer guten Viertelstunde, in dessen Verlauf man allerlei Befestigungsanlagen passiert, aber auch parkähnliches Grün und einige Häuser. Als wir den Eingang des Friedhofs erreichen, verbleibt uns bis zur Schließung gerade einmal eine Viertelstunde: wie sollen wir ohne irgendeinen Lageplan die Gräber der prominenten Komponisten finden? Gleich ein paar Schritte zur Rechten sind in einen Grabstein vergoldete Notenzeilen eingraviert sowie eine Unterschrift. Moment mal, heißt das nicht Smetana? So ist es, und etwas seitlich versteckt finden wir auch die Namen seiner wichtigsten Kompositionen. Um nun auch das Dvořák-Grab zu finden, frage ich andere Besucher. Der erste weiß es auch nicht, sehr wohl aber der zweite. Nachdem wir auch dieses Grab und die leider vertrockneten Blumen darauf gesehen haben, wird es höchste Zeit, das Smetana-Grab ein zweites Mal passierend wieder zum Ausgang zu gehen, um nicht hier eingeschlossen zu werden. Da hören wir auch schon die Kette rasseln, mit der die Aufseherin soeben das Tor verschlossen hat. Und jetzt? Sie verweist uns auf den Haupteingang, und während wir ihr eilig folgen, läuten nun auch die Kirchenglocken von sv. Petra a Pavla mit einer angenehmen Melodie die abendliche Friedhofsruhe ein. Hier draußen finden wir, während das Haupttor hinter uns verschlossen wird, nun auch den Belegungsplan des Friedhofs. Die meisten Prominenten sind uns aber natürlich vollkommen unbekannt.