Überschreitung

Alle wollen ins Kleinwalsertal. Wo der Bus der Linie 1 ablegt, ist schon von weitem an der langen Warteschlange zu erkennen. Zwar fahren die Gelenkbusse vom Oberstdorfer Busbahnhof im Abstand von 10 Minuten, aber genauso lang dauert es vorher auch, bis der Busfahrer alle Passagiere abgefertigt hat. Das liegt an einer Besonderheit des Tarifsystems: alle Passagiere mit Oberstdorfer Gästekarte müssen für den österreichischen Streckenabschnitt bezahlen, genau wie alle Feriengäste aus dem Kleinwalsertal für den deutschen Abschnitt bezahlen müssen. Will man dagegen nur zum Söllereck, reicht die Gästekarte. Und dann gibt es ja auch noch die vergünstigte Rückfahrkarte. Das vielfache ausgiebige Hantieren mit Bargeld nimmt genau jene 10 Minuten in Anspruch, die der Bus hat, bevor er fahrplangerecht seine Tür schließt und die noch draußen Stehenden an den nachrückenden Kollegen verweist.

An der Station Söllereck lockert sich die drangvolle Enge, und ab hier reicht nun auch die Zahl der Sitzplätze. Warum das Fremdenverkehrsamt nicht eine spezielle Söllereck-Linie kreiert, um das alles ein wenig zu entzerren, ist uns ein Rätsel.

Es ist übrigens egal, welchen Streckenabschnitt man befährt, der Tarif ist mit 4,30€ immer derselbe. Unser heutiges Ziel heißt Kanzelwandbahn. Von der Talstation in Riezlern geht es mit kleinen 6-Personen-Gondeln hinauf zu einer Aussichtsterrasse mit phantastischem Blick auf die umliegenden Berge. Einige Gipfel liegen so nah, dass man ihr Gipfelkreuz in einem halbstündigen Aufstieg erreichen könnte. Ein wenig weiter entfernt sehen wir den Fellhorngipfel, den man in der Regel mit einer anderen Bergbahn aus dem Stillachtal heraus anfährt. Oder aber zu Fuß und sozusagen grenzüberschreitend, denn links vom Grat ist Österreich und rechts Deutschland. Das merkt man hier oben aber nicht.

Wir wollen auch gar nicht den Grat entlang laufen, denn dieser Pfad steigt nach einem kurzen aber steilen Gefälle wieder deutlich an und endet an der Fellhorn-Bergstation, während der Wanderweg unserer Wahl ungefähr höhengleich zuerst zur Alpe Bierenwang und dann zur Mittelstation der Seilbahn führt. Auf der besagten Alpe kann man einkehren, was wir denn auch tun. Man könnte hier oben auch frische, also vollkommen unbehandelte Kuhmilch trinken, was wir aber nicht tun.

Der Himmel, heute morgen noch strahlend blau, hat sich zwischenzeitlich ziemlich zugezogen, und so fällt der Abschied vom Fellhorn nicht ganz so schwer. Zwar liegt die Alpenrosenblüte, für die es so berühmt ist, schon Wochen zurück, aber selbst jetzt Anfang September finden sich noch vereinzelt Eisenhut, Schwalbenenzian sowie natürlich Silberdisteln in großer Zahl. Und mit Glocken behängte Milchkühe, ebenfalls in großer Zahl.

Der Bus von der Fellhorn-Talstation wieder hinunter nach Oberstdorf ist genauso überfüllt wie der, mit dem wir heute morgen losgefahren waren. Erst als wirklich niemand mehr hineinpaßt, verrät der Busfahrer den noch immer draußen Stehenden ein kleines Geheimnis: in zwei Minuten kommt der nächste, und der wäre schön leer. Im Ernst? Tatsächlich: als wir losfahren, sehe ich ihn die Straße herabkommen, den leeren Folgebus.

Die Eisdiele hat heute wieder geöffnet. Und übrigens: wir gehören ab nun zu den Leuten, die gerne auf einer Bank im Kurpark sitzend die letzten Sonnenstrahlen genießen.

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