Heute ist wieder so ein Tag, an dem man nicht so recht weiß, ob sich das Wetter zum besseren oder zum schlechteren entwickeln wird. Genau genommen ist das aber auch egal, denn ich habe gestern in der Loretto-Allee mehr die Gegend geschaut als auf den geschotterten Weg, und dann gab eines das andere: mit dem linken Fuß ausgeglitten, umgeknickt, durch einen beherzten Satz nach vorne Schlimmeres verhindern wollen, im Gras gelandet, wieder aufgerappelt und dann leicht humpelnd zum Moorsee weitergelaufen. Wie gut, dass ich nicht auf dem schmalen Bohlenweg zur Fischerhütte abgerutscht und im Wasser gelandet war!
Das böse Erwachen kam dann im Lauf des Abends und der Nacht. Denn mein Fuß gab noch lange keine Ruhe und schmerzte bei jedem Schritt und sogar im Bett. Die erhoffte Besserung hatte auf sich warten lassen. Da wir nun also ohnehin nichts unternehmen können, brechen wir gegen Mittag unsere Zelte ab, will heißen, packen unsere Koffer, verabschieden uns vom gastgebenden Ehepaar Hindelang und wenden uns, ich mühsam humpelnd, dem Bahnhof zu.
Welche Züge fahren und welche nicht, wissen nur die Zugbegleiter. Eigentlich wollten wir in Kempten umsteigen und dann über Augsburg fahren, spontan entscheiden wir uns dann aber doch für die Strecke über München. Von welcher Bahnsteignummer fährt der RE1, und welches Gleis ist das überhaupt? Nach einigen Wirrungen kommen wir endlich auf dem richtigen Bahnsteig an, es ist die Nummer 25, und entern den proppenvollen Doppeldecker nach Nürnberg, wo wir noch vor 18 Uhr unser Zuhause erreichen. Die Gebersdorfer Hauptstraße ist mittlerweile geteert, es fehlen aber noch die Striche.
Vormittags wolkig, nachmittags Schauerneigung: offenbar arbeitet der liebe Petrus zur Zeit jeden Tag denselben Plan ab. Am besten tun wir es ihm gleich und fahren morgens per Seilbahn auf einen der umliegenden Gipfel, genießen die Aussicht, identifizieren ein paar Berge und wenden uns dann wieder dem Tal zu. Heute ist wieder das Nebelhorn an der Reihe.
War es beim letzten Besuch hier oben auch so windig und kalt? Eigentlich nicht, und auch die Berge sahen irgendwie freundlicher aus als heute. Das liegt an einer hohen Wolkenschicht, die nur stellenweise ein wenig blau durchscheinen läßt. Wir schauen ein wenig in die Ferne, dann ein wenig in die Tiefe und nochmal in die Ferne. Den Gipfel lassen wir heute aus, laufen nur einmal darum herum und wenden uns dann wieder der Seilbahngondel zu.
Eine Etage tiefer an der Station Höfatsblick ist es deutlich angenehmer. Erst recht, wenn man es sich in einem der Liegestühle auf der Terrasse der kleinen Bar bequem macht, um den Arbeitern drüben am Sessellift bei der Arbeit zuzusehen: einen Vierersessel nach dem anderen hieven sie auf das Tragseil und schrauben ihn daran fest. Natürlich kann man hier nicht für längere Zeit sitzen, ohne etwas zu konsumieren, die Wahl fällt auf je einen Erdbeer-Buttermilchshake.
Für die Talfahrt haben wir heute eine Gondel ganz für uns allein. Und wohin jetzt? Auf unserem Weg durch den Ort begegnet uns eine Bäckerei, die Apfelstrudel verkauft. Kaffee und einen angenehmen Fensterplatz finden wir wo? In unserer schönen Ferienwohnung natürlich. Und als das Wetter wieder ein wenig freundlicher aussieht, unternehmen wir noch eine kleine Wanderung hinauf zum Anglerhaus am Moorsee und auf dem Lorettoweg wieder zurück.
Müßte die Nebelhornbahn um diese Zeit nicht bereits Feierabend haben? Wir sitzen noch ein Weilchen auf der Terrasse der besten Currywurstbude weit und breit und beobachten, wie die Tragseile der Bahn allmählich verwaisen. Vermutlich gehen die Kabinen oben an der Seealpe schlafen wie eine Schar Hühner.
Ein wenig später setzt leichter Regen ein, der zum Glück erst stärker wird, nachdem wir unser Quartier erreicht haben.
Wie sich das Wetter heute entwickeln wird, ist vom Frühstückstisch aus schwer abzuschätzen. Regen droht wohl erst zum frühen Nachmittag hin, also können wir getrost einen Ausflug auf das Walmendinger Horn wagen, wo sich die vertrauten Berge aus einer anderen, ungewohnten Perspektive zeigen. Um mit der Seilbahn dort hinauf zu gelangen, müssen wir aber zuerst einmal den Bus ins Kleinwalsertal nehmen. Natürlich geht es im Bus wieder notorisch eng zu, und auch die Warteschlange vor dem Bus zeigt die gewohnte Eigenheit, dass von hinten immer genauso viele neue Gäste hinzu kommen wie vorne mit erworbenem Ticket in den Bus einrücken. Irgendwann heißt es dann aber doch „nichts geht mehr“, der Bus schließt seine Türen und hat nun hoffentlich noch genug Kapazität für die folgenden Haltestellen, wo natürlich weitere Fahrgäste warten.
Zum Walmendinger Horn wollen die wenigsten, wer nicht schon am Söllereck aussteigt, tut es spätestens an der Kanzelwandbahn. Und das ist auch gut so, denn die Kabinen der Hornbahn sind noch immer so klein, wie es Seilbahngondeln in den 1960er-Jahren nun einmal waren. Zudem zählen einige Passagiere zwar nicht mit, brauchen aber dennoch Platz für ihre jeweils vier Beine.
Als wir oben ankommen, hat bereits das Spiel der Wolken begonnen, die umliegenden Berge zeigen sich immer nur kurz, verschwinden dann, werden kurze Zeit später wieder sichtbar, um sogleich abermals zu verschwinden. Da drüben, ist das nicht die markante Trettachspitze? Oh, jetzt ist sie weg, genau wie weiter links der Hochvogel. Allein der Widderstein steht stets wuchtig vor uns, als wir die Serpentinen zum nahen Gipfel hinaufsteigen, um von dort oben auch das Panorama zur anderen Seite hin genießen zu können, auf den seltsam geformten Hohen Ifen zum Beispiel oder talauswärts nach Riezlern.
Ebenso ein Genuß sind aber auch die Bergblumen, von denen es selbst zu dieser fortgeschrittenen Jahreszeit noch etliche gibt, allen voran die zahllosen Silberdisteln.
Als wir uns sattgesehen haben, vertrauen wir uns der nächsten talfahrenden Gondel an und stehen schon bald wieder an der Wendestelle der petrolgrünen Walserbusse, denn das Ortszentrum von Mittelberg liegt etwas abseits der modernen Talstraße. Aber woher weiß man, ob es der talaufwärts oder der talabwärts fahrende Bus ist, der hier gegenüber der Kirche vor dem Feuerwehrhaus wendet? Nun, es gibt für jede Richtung einen anderen Haltepunkt, man muss also nur an der richtigen Stelle warten. Natürlich steht das Fahrtziel aber auch am Bus selbst angeschrieben.
Gerne hätten wir noch in Riezlern das Walsermuseum besucht, wenn dessen Wiedereröffnung nicht schon seit Jahren in den Sternen stünde. Vielleicht ein anderes Mal, in einem anderen Jahr.
Alle wollen ins Kleinwalsertal. Wo der Bus der Linie 1 ablegt, ist schon von weitem an der langen Warteschlange zu erkennen. Zwar fahren die Gelenkbusse vom Oberstdorfer Busbahnhof im Abstand von 10 Minuten, aber genauso lang dauert es vorher auch, bis der Busfahrer alle Passagiere abgefertigt hat. Das liegt an einer Besonderheit des Tarifsystems: alle Passagiere mit Oberstdorfer Gästekarte müssen für den österreichischen Streckenabschnitt bezahlen, genau wie alle Feriengäste aus dem Kleinwalsertal für den deutschen Abschnitt bezahlen müssen. Will man dagegen nur zum Söllereck, reicht die Gästekarte. Und dann gibt es ja auch noch die vergünstigte Rückfahrkarte. Das vielfache ausgiebige Hantieren mit Bargeld nimmt genau jene 10 Minuten in Anspruch, die der Bus hat, bevor er fahrplangerecht seine Tür schließt und die noch draußen Stehenden an den nachrückenden Kollegen verweist.
An der Station Söllereck lockert sich die drangvolle Enge, und ab hier reicht nun auch die Zahl der Sitzplätze. Warum das Fremdenverkehrsamt nicht eine spezielle Söllereck-Linie kreiert, um das alles ein wenig zu entzerren, ist uns ein Rätsel.
Es ist übrigens egal, welchen Streckenabschnitt man befährt, der Tarif ist mit 4,30€ immer derselbe. Unser heutiges Ziel heißt Kanzelwandbahn. Von der Talstation in Riezlern geht es mit kleinen 6-Personen-Gondeln hinauf zu einer Aussichtsterrasse mit phantastischem Blick auf die umliegenden Berge. Einige Gipfel liegen so nah, dass man ihr Gipfelkreuz in einem halbstündigen Aufstieg erreichen könnte. Ein wenig weiter entfernt sehen wir den Fellhorngipfel, den man in der Regel mit einer anderen Bergbahn aus dem Stillachtal heraus anfährt. Oder aber zu Fuß und sozusagen grenzüberschreitend, denn links vom Grat ist Österreich und rechts Deutschland. Das merkt man hier oben aber nicht.
Wir wollen auch gar nicht den Grat entlang laufen, denn dieser Pfad steigt nach einem kurzen aber steilen Gefälle wieder deutlich an und endet an der Fellhorn-Bergstation, während der Wanderweg unserer Wahl ungefähr höhengleich zuerst zur Alpe Bierenwang und dann zur Mittelstation der Seilbahn führt. Auf der besagten Alpe kann man einkehren, was wir denn auch tun. Man könnte hier oben auch frische, also vollkommen unbehandelte Kuhmilch trinken, was wir aber nicht tun.
Der Himmel, heute morgen noch strahlend blau, hat sich zwischenzeitlich ziemlich zugezogen, und so fällt der Abschied vom Fellhorn nicht ganz so schwer. Zwar liegt die Alpenrosenblüte, für die es so berühmt ist, schon Wochen zurück, aber selbst jetzt Anfang September finden sich noch vereinzelt Eisenhut, Schwalbenenzian sowie natürlich Silberdisteln in großer Zahl. Und mit Glocken behängte Milchkühe, ebenfalls in großer Zahl.
Der Bus von der Fellhorn-Talstation wieder hinunter nach Oberstdorf ist genauso überfüllt wie der, mit dem wir heute morgen losgefahren waren. Erst als wirklich niemand mehr hineinpaßt, verrät der Busfahrer den noch immer draußen Stehenden ein kleines Geheimnis: in zwei Minuten kommt der nächste, und der wäre schön leer. Im Ernst? Tatsächlich: als wir losfahren, sehe ich ihn die Straße herabkommen, den leeren Folgebus.
Die Eisdiele hat heute wieder geöffnet. Und übrigens: wir gehören ab nun zu den Leuten, die gerne auf einer Bank im Kurpark sitzend die letzten Sonnenstrahlen genießen.
Für den Nachmittag sind wieder Gewitter angesagt, aber bis dahin haben wir noch viel Zeit und können uns viel vornehmen. Eine Ecke von Oberstdorf, die wir noch nicht kennen, ist das Söllereck. Die neue Talstation der Kabinenbahn liegt direkt an der Straße ins Kleinwalsertal, nach einer bemerkenswert kurzen Fahrt mit der Gondel über die Straße und eine Wiese hinweg durchquert die Gondel ein Gebäude, das vielleicht früher einmal die Talstation der Vorgängerbahnen gewesen ist, dann schweben wir hinauf zum Berghaus Schönblick, wo man später, des Wanderns müde, einkehren und ein Glas Buttermilch trinken könnte. Aber noch sind wir ja keinen Schritt gewandert.
Das herrliche Wetter, die angenehme Temperatur und das Bimmeln der Kühe lockt uns auf den Weg in Richtung Kleinwalsertal. Vorbei am heute geschlossenen Berghaus am Söller und an der nahen Alpe Schrattenwang gelangen wir auf einen Höhenweg mit herrlichen Ausblicken auf den Ifen und die anderen umliegenden Berge. Ein paar Schritte weiter zeigen ein blaues und ein rot-weißes Schild am Wegrand an, dass wir uns von nun an in Österreich befinden. Schon bald gelangen wir zur Mittelalpe. Hier läßt es sich im Gastgarten zwar angenehm sitzen, die Preise sind allerdings weniger angenehm, so dass wir uns wieder auf den Weg machen und an die Stelle kommen, wo ich vor nunmehr fünfzig Jahren drei wunderschöne Skifreizeiten verbracht habe. Das Gasthaus Bergstüble gab es damals noch nicht, dafür ist allerdings das alte Bauernhaus, in dem wir damals untergebracht waren, verschwunden und ebenso der Skilift vom Tal herauf. Auch sonst hat sich einiges verändert. Über einen ebenso neuen wie steilen Weg gelangen wir hinunter zur Hauptstraße mit der Bushaltestelle, an der schon nach wenigen Minuten der Bus zurück nach Oberstdorf eintrifft. Vier Euro kostet die Fahrt bis zur Landesgrenze. Pro Person, versteht sich.
Der Ortsbus mit der Nummer 9 umkreist als Ringlinie unser Quartier so perfekt, dass wir von praktisch jedem Haltepunkt aus gleich weit zu Fuß gehen müssen. Immerhin passiert er aber den bereits bekannten Supermarkt, also steigen wir dort aus und füllen den Rucksack mit Einkäufen.
Was wäre ein Urlaub in Oberstdorf ohne einen Ausflug aufs Nebelhorn? Der Wetterbericht stellt zwar für den Nachmittag Gewitter in Aussicht, aber irgendwie werden wir es schon schaffen, trocken zu bleiben.
An der Talstation ist erstaunlich wenig los, und mit dem Bergbahn-Ticket, das im Preis unserer Ferienwohnung enthalten ist, gelangen wir direkt durch die Sperre in eine der gelben 10-Personen-Gondeln, die uns hinaufträgt zur Station Höfatsblick. Hier heißt es nun allerdings umsteigen in die Gipfelseilbahn, die nach wie vor eine klassische Zwei-Kabinen-Pendelbahn ist. Die Terrasse des Gipfelrestaurants wie auch der Gipfel selbst erfreuen das Herz wie immer mit der Aussicht auf Dutzende naher und ferner Gipfel von der Zugspitze im Osten bis zum Säntis im Westen.
Wandern kann man hier oben nicht, lediglich einige Gratwege zu den Gipfeln in der Umgebung wären für trittsichere Bergsteiger begehbar. Da ist unten der altvertraute Weg entlang der Trettach, gleich neben der der Talstation, die bessere Alternative. Und so sieht man uns denn schon bald dort entlang laufen, bis wir ein gutes Stück weiter am Wegrand eine Tafel mit der Aufschrift „Café Gruben heute ab 14 Uhr geschlossen” entdecken. Schade, denn das wäre unser Ziel gewesen. Aber der kleine Hunger läßt sich ja auch am Currywurst-Lokal gleich gegenüber der Talstation der Nebelhornbahn stillen, zumal die Wirtin sich über die Gäste aus ihrer Heimat freut.
Das angekündigte Gewitter verspätet sich. Erst als wir, nicht ohne vorherigen Abstecher zur Eisdiele, wieder im Quartier sind, grollt der Donner und zucken Blitze über den inzwischen wolkenverhangenen Himmel, und etwas später setzt auch der Regen ein.
Auf die Deutsche Bahn ist Verlaß: irgend etwas geht immer schief. Dabei fing alles recht gut an heute morgen, der Zug war, als wir ans Gleis 5 kamen, soeben eingelaufen, die erste Etappe nach Augsburg startete pünktlich und verlief angenehm, und auch den Anschlußzug nach Oberstdorf erreichten wir wie geplant. Zwar gab es Gerüchte, dass wegen einer Weichenstörung an der eingleisigen letzten Etappe nur jeder zweite Zug bis Oberstdorf durchfahren könne, in einem solchen wähnten wir uns aber, denn auf dem Kopfdisplay des Zuges stand „RE17 Oberstdorf”, und auch die DB App wies lediglich eine Verspätung von wenigen Minuten für die letzten drei Halte auf, ein bei der DB völlig normaler Zustand also.
Die Wende kam, als wir uns Immenstadt näherten und Heerscharen von jungen Leuten unser Abteil stürmten, um sich in nunmehr drangvoller Enge lautstark fürs Sonthofener Malle-Volksfest in Bierlaune zu trinken. Die schon länger im Abteil sitzenden mussten mitsamt Gepäck ganz eng zusammenrücken. Für die Fahrgäste nach Oberstdorf sei ab Sonthofen ein SEV (Schienenersatzverkehr) eingerichtet, war trotz des Lautstärkepegels herauszuhören und wurde vom Zugbegleiter auch nochmal bestätigt. Wahlweise stünde aber auch ab Fischen, der temporären Endstation des Zuges, ein Ersatzbus zur Verfügung. Und so stand es ja auch in der Bahn-App: Fischen SEV ab 14.45 Uhr.
Dieser Plan sagte uns zu, also blieben wir bis Fischen im Zug, der jedoch durch das mehrfache Warten auf Gegenzüge die Zeitreserve bis zur Abfahrt des Ersatzbusses mehr und mehr aufzehrte. Ob der Bus wohl auf den Anschluß, für den er vorgesehen war, warten würde? In Fischen, es war inzwischen 14.46 Uhr, war jedenfalls weit und breit nicht die Spur eines SEV zu sehen, jedoch traf wenig später der reguläre Linienbus ein. Ob er denn nach Oberstdorf fahre? Schon, allerdings über den langen Weg. Die 44 ist nämlich, muss man wissen, eine Ringlinie. Lieber aber einen Umweg fahren als eine halbe Stunde an der Haltestelle herumstehen, dachten wir uns, und kamen folglich in den Genuß einer Rundfahrt über Bolsterlang, Aumühle, Obermaiselstein und den Eingang zur Breitachklamm, ehe wir schließlich fast zeitgleich mit dem in Gegenrichtung zirkulierenden 44er am Bahnhof Oberstdorf eintrafen. 10 Minuten später erreichten wir dann endlich samt Koffern unser temporäres Quartier in der Gartenstraße 18.
Das Haus Hindelang erwies sich als ein sehr angenehmes Quartier mit einer geräumigen und gut ausgestatteten Ferienwohnung, in der wir uns nun bereits recht gemütlich eingerichtet haben, nicht ohne vorher noch dem laufnahen Supermarkt und der ebenfalls nahen Eisdiele je einen Besuch abgestattet zu haben.
Was tut man an so einem Abend? Man probiert den Fernseher aus. Dieser hier ist ein gutes Gerät, denn er hat eine Oper im Programm: „Der Freischütz” von Carl Maria von Weber, unterhaltsam präsentiert von der Bregenzer Seebühne. Deren Darsteller standen zwar knietief im Wasser, aber das war sicher alles beabsichtigt, und sie schienen sich auch nicht vor den schauerlichen Skeletten zu gruseln, die im zweiten Akt der nassen Tiefe entstiegen
Frühmorgens um 12 Uhr brechen wir wieder auf, dieses Mal aber in die andere Richtung, denn heute ist Florenz angesagt. Ursprünglich hatten wir ja die Absicht, uns von der Gruppe abzusetzen und die berühmten Uffizien zu besuchen, aber in dieser Rechnung waren uns dann doch zu viele Unbekannte: unsichere Uhrzeiten, eine Gehstrecke unbekannter Länge, ein zu kleines Zeitfenster und natürlich die erbarmungslose Hitze. Es bleibt also bei einem Rundgang mit der Stadtführerin, die uns am Dom und am Dante-Turm vorbei zum Rathausplatz führt. Warum haben die Florentiner damals eigentlich das Fürther Rathaus nachgebaut? Egal, dort drüben steht jedenfalls der berühmte David.
Der Platz sei heute angenehm leer, stellt die Stadtführerin fest und verabschiedet sich. Ab hier sind wir auf uns allein gestellt.
Damit die vielen Touristen Florenz nicht mit leer getrunkenen Wasserflaschen zumüllen, denn in Italien kennt man kein Flaschenpfand, haben die Stadtoberen an die Wand des Rathauses einen Trinkwasserbrunnen gebaut, rechts für stilles und links für sprudelndes Aqua minerale. Das schattenlose Wartenmüssen in der Schlange vermehrt den Durst allerdings auch gewaltig, so dass der eine oder andere seine Flasche füllt, an Ort und Stelle austrinkt und dann gleich noch einmal nachfüllt.
Wir setzen uns zum Trinken auf eine Steinbank ganz in der Nähe. Neben uns ist noch ein Sitzplatz frei. Nein, jetzt nicht mehr, denn jetzt hat eine chinesische Reiseleiterin ihren Rucksack abgestellt und packt hier für ihre Gruppe die Audiosets aus, umringt von etwa 20 Chinesinnen, die sich alle um die bewußte Bank herum scharen, mit uns beiden in der Mitte. Und natürlich hat jede der fernöstlich aussehenden und sprechenden Schönheiten irgendeine Frage, man kennt das ja. Was für ein Geschnatter! Als sie weg sind, brechen wir kurze Zeit später ebenfalls auf und laufen zu der Stelle am Ufer des Arno zurück, wo vielleicht schon der Bus steht. Nein, wir sind viel zu früh dort, während der Bus sich wiederum verspätet. Zum Glück finden wir einen heute unbewirtschafteten Imbißstand und können uns im Baumschatten an einen der Tische setzen.
Das heutige Abendessen im Hotel ist das erste, für das wir uns vorher umziehen und frisch machen können: am ersten Abend waren wir erst kurz vor 20 Uhr da, die beiden Operntage wiederum verbrachten wir abends auswärts. Beim Frühstück war heute eine Menüliste herumgereicht worden mit Wahlmöglichkeiten beim ersten Gang. Da sich aber einige Gäste für keines der beiden Gerichte erwärmen konnte, hatte die Wirtin handschriftlich „Pomodori“ darunter gesetzt. Also Tomaten.
Eigentlich würden wir gerne noch einmal den sympathischen Gelatiero aufsuchen, aber heute ist Sonntag, und als wir vorhin mit dem Bus dort vorbeigekommen waren, hatte die Eisdiele geschlossen. Schade. Denn leider ist der heutige Abend ja auch schon wieder der letzte dieser Festivalreise, und wir werden vor dem Schlafengehen noch einmal daran erinnert, dass pünktlich um 8 Uhr alle Koffer im Bus sein müssen, geordnet nach Aussteigezielen. Wir natürlich auch. Geordnet wie immer: erste Reihe, Fahrerseite.
Nachtrag
Die Heimreise verläuft weitgehend ereignislos, wenn man von der kleinen Panne mit dem Würstchenkocher absieht: der hatte sich nämlich während der Fahrt wieder abgeschaltet, und so dauert es an der Raststätte einige Zeit, bis jeder seine Ration in der Hand halten kann.
Nach einer relativ kurzen Nacht könnten wir das Frühstück getrost auch weglassen, denn für 12 Uhr ist heute im Hotel ein Mittagessen angesetzt. Wir frühstücken trotzdem. Die Wirtin spricht fließend deutsch mit Oberpfälzer Einschlag, denn ihre Mutter stammt aus Waldsassen. Wo es ihr denn besser gefiele, in Italien oder in Deutschland? Letzteres, sagt sie, aber ihr Mann will nicht weg von hier. Verständlich, denn die Toskana ist wirklich eine zauberhafte Region. Und weil sie deutsch spricht, kann man sie auch necken: fragt sie etwa beim Übergeben des leer gewordenen Kruges „ist das Sojamilch?”, antworte ich scherzhaft „nein, Luft”. Ok, ich sehe es ein: gestreßtes Personal ist dieser Art von Humor abhold.
Zum Mittag gibt es Lachs. Ohne Gummiband. Frisch gestärkt brechen wir sodann nach Lucca auf. Das ist ein malerisches Städtchen auf halber Strecke zwischen Montecatini und Torre, wo wir auch heute wieder einer Opernvorstellung beiwohnen werden.
Der Parkplatz für Reisebusse befindet sich auch in Lucca weit außerhalb der Stadtmauern, bei 40 Grad im Schatten kämen wir alle völlig erschöpft am Dom an, denn der liegt vom Parkplatz aus gesehen am jenseitigen Rand der Kernstadt. Thomas hat aber eine bessere Idee und setzt uns an jenem Stadttor ab, das dem Dom am nächsten liegt.
Wir beide wollen aber gar nicht zum Dom, sondern zum Geburtshaus Puccinis, das sich ziemlich genau im Zentrum des Zentrums befindet. Was würden wir nur ohne das Smartphone-Navi machen? Wir müßten dann ja den vielen Wegweisern zum Casa natale folgen. Wie dem auch sei, wir finden das von außen eher unscheinbare Gebäude und – es ist abgeschlossen! Wieso das denn? Sollen wir klingeln? Ein Täfelchen neben der Tür verweist auf das Ticket Office, das sich an der gegenüberliegenden Seite des Platzes befindet. Aber wie geht es nun weiter? Die Tür zum Puccinihaus ist ja nach wie vor verschlossen? Händigt man uns vielleicht einen Schlüssel aus? Des Rätsels Lösung: wir mögen bitte klingeln.
Es ist ein wenig wie in einem alten Roman oder Film: man wird nach einem Losungswort gefragt, und nur wer die richtige Antwort weiß, wird eingelassen. Im unserem Fall heißt die Frage „Avete già un biglietto?” und die Parole „Si!”. Für uns Touristen spielt sich dieser Dialog natürlich auf englisch ab. Wie viele hier wohl täglich unbedarft anläuten und dann erst einmal wieder weggeschickt werden müssen?
Die Wohnung, in der der große Komponist 1858 geboren wurde und eine glückliche Kindheit und Jugend verlebte, liegt oben im zweiten Stock. Einen Aufzug gibt es nicht, für den Notfall aber einen Treppenlift. Zwei freundliche Bedienstete, ein Mann und eine Frau, überprüfen noch einmal unsere Tickets und händigen uns je ein beidseitig bedrucktes Blatt in deutscher Sprache aus, dann dürfen wir den Raum betreten, dessen Schaustück Puccinis Steinway-Flügel ist. Auf diesem Instrument wurde Turandot komponiert: die Oper, die wir heute abend sehen werden. Dass Puccini kurz vor der Vollendung dieses Werkes an Kehlkopfkrebs verstorben ist, wissen wir bereits. Und auch, dass sich sein Todestag heuer zum hundertsten Mal jährt. Er war also gerade einmal 66 Jahre alt geworden
Es folgen viele weitere Räume, die fast alle eines gemeinsam haben: zentrales Ausstellungsstück ist ein Kostüm aus einer seiner Opern, eines schöner wie das andere. Nur einmal nicht, da füllt das Bett seiner Eltern den gesamten Raum aus. Aber sogar in das kleine Ankleidezimmer nebenan hat man ein textiles Outfit gestellt, in diesem Fall die Abendrobe des Meisters persönlich. Und einen anderen Raum hätten wir beinahe übersehen, denn neben dem Durchgang zur Treppe prangt ein Schild mit stilisierten Männlein und Weiblein. Das kennt man ja irgendwie. Allerdings sind es deren vier, was dann doch Anlaß genug ist, auch den Text zu lesen: es dürfen nur vier Personen gleichzeitig in den Raum, der einst die Dachkammer war und heute daher folgerichtig eine Szene aus La Bohème zeigt.
Bevor wir wieder hinaus ins Foyer treten, wo in einem gesonderten Raum das mit Abstand schönste aller Kostüme ausgestellt ist, kommen wir noch am Grammophon vorbei. Nanu, fehlt bei diesem Gerät etwa der so typische Schalltrichter? Mitnichten, aber er befindet sich im Inneren des Möbels, unterhalb des Plattentellers. Unsereiner möchte natürlich sofort wissen, welche Platte da aufliegt: es ist „E lucevan le stelle” (Und es leuchteten die Sterne) aus Tosca, gesungen von Enrico Caruso. Schade, dass die Aufnahme nicht abhörbar ist. Dafür dürfen wir aber ausgiebig das bereits erwähnte Bühnenkostüm bewundern, das die Sopranistin Maria Jeritza bei der Erstaufführung an der New Yorker Metropolitan Opera trug. 1926 war das, ein halbes Jahr nach der Uraufführung an der Mailänder Scala.
Ob wir es nach diesem unerwartet ausgiebigen Museumsbesuch noch zum Dom schaffen? Es sind knapp 10 Minuten Wegstrecke bis dorthin und dann noch einmal 10 Minuten bis zum Bus, der in genau einer halben Stunde an der uns bekannten Stelle wieder abfahren soll. Einen Versuch ist es wert! Wir bewundern den Dom aber nur von außen, denn für einen kurzen Blick ins Innere Eintritt zu bezahlen will mir unökonomisch erscheinen. Auch das berühmte sogenannte Fingerlabyrinth an einer der Säulen der Vorhalle ließe sich mit etwas Geduld sicher lösen, aber die Zeit drängt, und Punkt 16 Uhr sitzen alle im Bus. Alle bis auf zwei, denn die hatten sich verlaufen.
Den Weg nach Torre del Lago und zum Busparkplatz kennen wir ja nun schon. Was wir noch nicht kennen, zumindest nicht von innen, ist Puccinis Wohnhaus am See, wo es ihm so ausgesprochen gut gefiel, weil er hier seiner Jagdleidenschaft nachgehen konnte, und wo er eigentlich alt werden wollte. Aus zwei Gründen gelang ihm das nicht: zum einen, weil man ihm ein lautes und häßliches Kraftwerk direkt vor den Garten stellte. Und zweitens, weil er fortan nicht mehr lange zu leben hatte.
In einer Führung dürfen wir das Haus kennenlernen. Eigentlich ist unsere Gruppe aber zu groß für ein Wohnhaus wie dieses, und wir sehen das Förster-Klavier nur von weitem. Puccini liebte dieses Instrument so sehr, dass er sich eine Grabstätte Wand an Wand damit wünschte. Dieser Wunsch wurde ihm später tatsächlich auch erfüllt, sein marmorner Kenotaph steht an der Wand der kleinen Hauskapelle, die unmittelbar an das Klavierzimmer angrenzt. Und wird es gespielt, kann er das in seiner Gruft in der Wand sicher hören, genau wie seine Frau, sein Sohn, seine Schwiegertochter und seit ein paar Jahren auch seine Enkelin.
Für heute abend steht nun also Turandot auf dem Spielplan der Seebühne. Da wir bis zum Vorstellungsbeginn wieder etwas Zeit haben, wollen wir uns im Café einen Eiskaffee gönnen. Aber der italienische Kellner versteht nicht so recht, was wir da bei ihm bestellen möchten, und so serviert man uns schließlich zwei Gläser kalten Kaffee mit Eiswürfeln darin.
Turandot ist ein Dreiakter, der zweite und der dritte Akt haben jeweils zwei Bilder. Es geht in der Oper um eine schöne chinesische Prinzessin, die jeden Freier köpfen lässt, der ihre drei Rätsel nicht lösen kann. Soeben ist wieder einer durchgefallen, der dreizehnte in diesem Jahr. Ping, Pang und Pong, die Minister des Kaisers, sowie auch der Vater, dessen Sklavin Liù und sogar der Kaiser selbst versuchen Prinz Calàf, der ebenfalls den Bewerbungsgong schlagen will, von seinem Plan abzubringen, aber vergebens.
Gegen Ende des zweiten Aktes geschieht das Unglaubliche: der fremde Prinz kann alle drei Rätsel lösen. Nun aber zickt die Prinzessin herum und will, obschon sie im Wort steht, ihren Teil der Abmachung nicht erfüllen. Man einigt sich darauf, dass sie ihrerseits eine Aufgabe gestellt bekommt: sie soll den Namen des Fremden herausfinden und betraut nun ihre Wachen damit, die Sklavin zu foltern, da sie die einzige ist, die ihn kennt. Aus Liebe zum Prinzen und um ihn nicht unter der Folter doch noch zu verraten, erdolcht sich das Mädchen. Das ist aber eigentlich schon die Handlung des dritten Aktes, dem gestern bei Tosca eine halbstündige Pause vorausgegangen war.
Eigentlich sollte jetzt auch noch ein Happy End folgen, stattdessen verbeugen sich unerwartet die Darsteller zum Schlussapplaus. Dann geht das große Licht an, und der Mann am Lichtmischpult deckt sein Lichtmischpult zu. Alle bleiben betreten sitzen: warum dieses plötzliche Ende? Ich erinnere mich gelesen zu haben, dass Puccini verstorben war, bevor er die Oper zu Ende komponiert hatte. Und genau dieses vorzeitige Ableben des Maestro hatte die Aufführung nun nachvollzogen, den fremd hinzu komponierten Schluss weglassend.
Statt erwartungsgemäß noch etwas länger zu dauern als gestern ist die Aufführung unerwartet so früh zu Ende, dass die ersten Rückkehrer den im Bus schlafenden Busfahrer wecken müssen. Und so geht dieser Abend ähnlich zu Ende wie der letzte: mit einem Absacker aus dem Kühlfach des Busses, während dieser über die Autostrada unser Quartier ansteuert.
Grund unserer Reise sind die Puccini-Festspiele in Torre del Lago, die dortige Seebühne liegt etwa eine Stunde Fahrzeit vom Hotel entfernt. Wir haben aber viel Zeit, sehr viel sogar. Denn die Vorstellung beginnt erst eine Viertelstunde nach Neun. Als Vorprogramm werden wir Pisa und den Schiefen Turm besichtigen. Allerdings auch erst relativ spät, damit bis zu unserer Rückkehr am sehr späten Abend für den Busfahrer nicht mehr Lenkzeit anfällt als erlaubt. Als Abfahrtszeit wird 12 Uhr 20 ausgerufen.
Verbringen wir die Zeit also im nahen Kurpark! Das Städtchen am Südhang des Apennin ist längst nicht mehr so mondän wie in der Epoche der Bäderreisen, als hier eine Therme neben der anderen um Gäste buhlte und deswegen auch attraktiver sein wollte als die Konkurrenz nebenan. Heute sind die Anlagen verfallen, die Häuser verwittern und zerbröseln allmählich, und überall breitet sich Grünzeug aus. Schade, dass man nicht hineingehen darf, um diese malerische Morbidität aus der Nähe zu studieren. Es wäre aber wohl zu gefährlich, und so müssen wir uns mit neugierigen Blicken über den Zaun begnügen.
Auch für einen Supermarktbesuch wäre noch etwas Zeit, schließlich haben wir heiße und durstige Tage vor uns. Aber wo? Das Smartphone führt uns zu einem Markt ganz in der Nähe, aber der hat seine Türen offenbar für immer geschlossen. Die Liebste fragt eine Italienerin, die gerade in ihr Auto steigt und einheimisch aussieht. Zu unserem Erstaunen erklärt sie uns in fließendem Englisch den Weg zum nächsten CONAD Markt und schätzt die Gehzeit bis dorthin auf 10 Minuten. Mille grazie! Zur Sicherheit befrage ich, als wir außer Sichtweite sind, noch einmal mein schlaues Gerät: 9 Minuten Fußweg. Das sollte zu schaffen sein und ist es auch. Das Personal bei CONAD ist ausgesprochen zuvorkommend, und die Preise günstig. Nun sind wir also für’s erste versorgt: mit Softgetränken, Birra und Aperol. Und auch der Fußweg durch die Stadt war durchaus angenehm, da es hier erstaunlich wenig Autoverkehr gibt. Wie machen die Italiener das nur?
In Pisa erwartet uns die gebuchte Stadtführerin, eine sympathische junge Frau, die offenbar in Deutschland aufgewachsen ist. Leider liegt der Busparkplatz ziemlich außerhalb. Teuer ist er trotzdem, aber was will man machen, die Vorschriften für Touri-Gruppen sind nun einmal so.
Der Stadtplan, an dem wir auf dem Weg zum Dombezirk kurz stehen bleiben, sieht von weitem wie der von Nürnberg aus: ein schiefes Rechteck, ein horizontal querender Flußlauf, und das Wichtigste befindet sich in der linken oberen Ecke.
Wir sind auf dem Weg zu jenem Campanile, der heute bei weitem nicht so berühmt wäre, hätten seine Baumeister im 12. Jahrhundert nicht buchstäblich auf Sand gebaut. Wie schräg er wirklich steht, der Schiefe Turm von Pisa, wird nirgendwo deutlicher wie an der Stelle, wo er mit der senkrechten Außenwand des Doms kontrastiert. Doch, eine weitere Stelle gibt es, und zwar direkt vor der Tür, die in das Turminnere führt. Das Gelände ist an dieser Stelle etwas eingetieft, und das sei auch der Grund, warum die Neigung in den letzten 150 (?) Jahren immer stärker wurde, heißt es, denn es fehle das stabilisierende Gewicht des Erdreichs. Ich selbst vermute ja einen anderen Grund, und zwar den Umstand, dass sich Regenwasser immer an der tiefsten Stelle sammelt und von dort ins Erdreich dringt. Wie dem auch sei, das bevorstehende Umfallen des Turmes konnte quasi im letzten Augenblick verhindert werden, und heute darf man ihn sogar wieder betreten: angesichts des Andrangs eine Geduldsprobe, und das bei 40 Grad im Schatten!
Zuletzt hatte man die Turmneigung so gut im Griff, dass man ihn durchaus auch wieder in die Lotrechte hätte bringen können, erzählt die Stadtführerin. Aber niemand in Pisa würde einen geraden Turm wollen. Und zudem ist das Bauwerk auch in sich selbst schief, da man die zunehmende Neigung schon während der Bauphase bemerkte und ihr durch unterschiedliche Säulenlängen entgegen wirkte. Auch die Zahl der Treppenstufen zur Glockenstube, dem obersten Turmabschluss, soll auf der geneigten Seite größer sein. Geläutet wurden die Glocken übrigens zum letzten Mal in den 1950er-Jahren, dann wurde die Angst um die Stabilität des Turms mächtiger als die Traditionen.
Dass Galileo Galilei seine Fallversuche vom Turm aus durchführte, sei eine unbestätigte Legende, sagt Stadtführerin Christina, denn das hätte Galilei in seinen Schriften sicherlich erwähnt („Hätte er das getan, dann hätte er das getan”).
Wie schwierig es in Pisa ist, Gebäude senkrecht in die Höhe zu bauen, zeigt sich auch am Dom. Man sieht es zwar nicht auf den ersten Blick, aber der Kronleuchter hängt keineswegs genau mittig. Und was mögen sich die Baumeister wohl gedacht haben, als sie die Marmorfiguren unter der Kanzel so einbauten, dass die Heiligen in Richtung Wand schauen? Hatte ihnen die sommerliche Hitze die Sinne vernebelt? Wohl kaum, denn im Dom ist es angenehm kühl.
Neben Turm und Kirchenschiff gibt noch ein drittes markantes Bauwerk auf dem Domplatz: das achteckige Baptisterium. Der Bau war nötig geworden, weil Ungetaufte nicht in die Kirche durften. Wie also hätte man sie da in der Kirche taufen sollen?
Wie erfindungsreich die Toskaner sind, erfahren wir wenig später im nahen Viageggio, wo wir eine späte Mittagspause – im Leitner-Jargon Freizeit – einlegen. Nachdem alle ein wenig flanieren waren, und obwohl es Alternativen gegeben hätte, findet sich die halbe Reisegruppe in der nahen Pizzeria ein, die ohne unsere Gruppe heute einen schlechten Tag gehabt hätte, denn wir waren die einzigen Gäste. Das WC dieses Lokals befindet sich oben im ersten Stock, wo auch die Möwen hausen. Wie man am Waschbecken das Wasser aufdreht? Nun, es gibt unten zwei Fußhebel: einen roten und einen blauen. So muss man, gänzlich ohne Elektronik, mit seinen sauberen Händen nichts mehr weiter anfassen.
Von hier bis zur Seebühne nach Torre del Lago ist es jetzt nur noch ein Katzensprung, zumindest theoretisch. Denn das Navi kommt wohl nicht so recht mit den Abmessungen eines Reisebusses klar. „Der PKW kam auch durch” bemerkt die Liebste trocken, als wir aus einer engen Straße mit einer noch engeren Unterführung rückwärts wieder heraus rangieren müssen.
Einmal noch nach links abbiegen, dann sind wir auf der Zielgeraden zum See. Aber wie – Stichwort Platanen? Nach rechts herum geht es aber. Jetzt käme ein Kreisverkehr gelegen, aber immer wenn man einen solchen braucht, kommt keiner. Man sollte für solche Fälle immer einen Reserve-Kreisverkehr im Handschuhfach haben. Nach mehreren Kilometern ist es schließlich so weit, wir umrunden den einzigen Kreisel weit und breit, und nun sollten wirklich keine Hindernisse mehr auftauchen.
Als die Straße schließlich vor einer Schranke endet, fragt der dortige Platzanweiser in geschliffenstem Schwyzerdütsch zum Fenster herein, warum wir denn nicht auf dem Busparkplatz parkiert hätten? Busparkplatz? Tatsächlich wäre da irgendwo ein Verkehrszeichen gewesen, aber das ehemals blaue Schild hatte sich längst wie ein Chamäleon der Umgebung angepaßt. Also Busparkplatz! Schließlich wollten wir uns ja alle noch operngerecht umziehen, und das wäre an der Stelle, wo wir zum Aussteigen nur 5 Minuten hätten stehen bleiben können, nicht möglich gewesen.
Am Ende dieses langen Tages und nach zwei weiteren langen Stunden bis zum Vorstellungsbeginn sitzen wir dann also tatsächlich im Stadion, wo gleich der Wettkampf … Späßle, vor uns liegt die Seebühne, auf der gleich eine Aufführung von Puccinis „Tosca” beginnen wird. Ohne Seeblick, denn es ist bereits ziemlich dunkel. Dafür aber mit Mondsichel zur rechten.
Im ersten Akt trifft der politische Gefangene Angelotti in einer Kirche auf seinen Freund, den Maler Cavaradossi, der ihn in der Sakristei versteckt. Das weckt den Argwohn seiner Geliebten, die hinter alledem eine andere Frau vermutet. Der Irrtum wird aufgeklärt, aber Polizeichef Scarpia läßt den Maler, der Angelottis Versteck nicht preisgeben will, foltern und droht mit dessen Hinrichtung, sollte Tosca ihm nicht zu Willen sein. Die geht zum Schein darauf ein, erbittet aber ein Schriftstück mit der Begnadigung. Als sie es hat, erdolcht sie Scarpia. Der allerdings hatte sie betrogen, so dass die Hinrichtung am Ende doch noch erfolgt und Tosca vor Kummer von der Engelsburg springt. Irgend jemand stirbt eben immer in einer Oper, in dieser sind kurz vor Mitternacht sogar alle tot und die Oper zu Ende. Darauf trinken wir einen. Im Bus, auf dem Heimweg.