Um nach Leipzig zu gelangen, haben wir uns für eine sehr ökonomische Lösung entschieden, nämlich den Regionalzug. Die Verbindung besteht aus zwei Teilstrecken, einmal von Nürnberg nach Saalfeld über Bamberg, Schweinfurt und den ehemaligen Grenzbahnhof Probstzella, und dann noch einmal von Saalfeld über Gera nach Leipzig Hauptbahnhof. Der erste Zug ist ein Doppeldecker, der zweite ein relativ kleiner und bis auf den letzten Platz ausgelasteter Dieseltriebwagen. Heute ist ein herrlicher Herbsttag, die höher steigende Sonne läßt Nebelschwaden aus den frisch gepflügten Feldern emporsteigen. Abgesehen von einem lautstark schnarchenden Mitreisenden, der für die Fahrkartenkontrolle erst mühsam geweckt werden muss, haben wir recht angenehme Mitreisende, insbesondere den Achtjährigen, der voller Stolz berichtet, er sei mit seinen Eltern und dem kleinen Bruder unterwegs zum Rummel nach Leipzig, der viel größer und schöner sei als zuhause in Gera.
Leipzig ist ein Kopfbahnhof, man läuft vom Bahnsteig schnurstracks hinaus auf den Vorplatz, überquert ein paar Straßenbahngleise und ist dann auch schon in der verkehrsberuhigten Altstadt, wo wir nach wenigen hundert Metern zur Rechten das Motel One vorfinden. Das Zimmer ist noch nicht bezugsfähig, aber wahrscheinlich sehen wir so ermattet aus, dass die freundliche Rezeptionistin verspricht, uns in einem der ersten unterzubringen, die heute frei werden, und stellt auch unsere Koffer unter, so dass wir uns frei in der Stadt bewegen können.
Das lassen wir uns nicht zweimal sagen, denn wir haben uns für die zwei Tage einiges vorgenommen. Auf dem Besuchsprogramm steht zunächst einmal das Museum für Musikinstrumente, das ein Teil des Grassimuseums ist und mit einem viertelstündigen Fußmarsch erreichbar.
Wie groß mag das Museum wohl sein? Man ist ja immer gut beraten, sich vorab zu überlegen, wie viel Zeit man hat und wieviel man davon in die einzelnen Säle und Themen investieren will. Aber wie viele gibt es? Kann man sich auch Zeit für die eine oder andere Hörprobe nehmen? Die hier nicht wie anderswo über einen Hörer eingespielt werden, sondern stets den ganzen Raum beschallen? Was je nach Besucherstruktur aber durchaus Vorteile hat, besonders wenn jedes Instrument über einen anderen Lautsprecher eingespielt wird.
Sehen wir uns also den ersten Saal an. Es geht um Streichinstrumente mit 18 Saiten, die weiß der Geier wie gestrichen wurden, Im zweiten dann um Klaviere mit geteilten Obertasten und im dritten um das Musikleben zu Bachs Zeiten. Als nächstes folgt nun der Konzertsaal mit der berühmten Silbermann-Orgel, und zu guter Letzt führt der Weg durch drei weitere Säle wieder hinaus ins Foyer mit den Kassen und dem Übergang zum anderen Museum im Grassi, dem Museum für Völkerkunde. Aber das heben wir uns für einen anderen Besuch auf.
Was uns bei den Instrumenten auffiel waren vor allem die vielen Möglichkeiten, die Tafeln mit den einführenden Texten unterzubringen. Mal hingen sie an der Wand wie in anderen Museen auch, dann wieder seitlich an der Vitrine und einmal sogar an der rückseitigen Vitrinenwand. Und dann die vielen exotischen Instrumente! Was wie (eine Kommode mit vielen seitlich ineinander gesteckten Schüsselchen) die Auslage eines Porzellanladens aussieht, ist eine Glasharmonika. Sie wird mit angefeuchteten Fingern gespielt, das Schwämmchen dafür liegt griffbereit. Eindruck machen auch die selbstspielenden Geräte in allen Größen, von der Lochstreifen-Mundharmonika bis hin zum schrankgroßen Orchestrion des Leipziger Herstellers Hupfeld.
Zurück im Hotel ist das Zimmer 330 soeben fertig geworden. Die Innenstadtlage hat den Vorteil, dass wir nicht lange nach einem Imbiß suchen müssen, die Wahl fällt auf den Asiaten gleich nebenan. Reis mit Stäbchen zu essen ist übrigens eine echte Herausforderung.
Heute Abend haben wir Karten für die Musikalische Komödie. Gegeben wird die wohl bekannteste Operette von Johann Strauß: „Die Fledermaus”. Zuerst aber gilt es, die im Stadtteil Lindenau gelegene Spielstätte zu finden. Wir nehmen die Straßenbahn zur Haltestelle „Angerbrücke“ und plaudern während der Fahrt mit einer jungen Mutter über deren Pläne, den aufgeweckten Sohn nächstes Jahr bei den Thomanern einzuschulen, wo er vielleicht eines Tages Chorknabe wird. Das letzte Stück Weges gehen wir zu Fuß. Schneller als erwartet, denn der Park war nur ein Grünstreifen und der Fluß nur ein Bach, stehen wir vor einem eingerüsteten Bau und wären beinahe daran vorbei gelaufen, hätten wir nicht die vielen vor dem Eingang wartenden Leute bemerkt.
Der Theaterbau strahlt samt Personal den nüchternen Charme der DDR aus, aber wir haben gute Sicht auf die Bühne und sind schon bald von der pfiffig inszenierten Handlung und der schönen Musik begeistert. Es geht um einen Mann, der wegen Beleidigung einer Amtsperson eine Haftstrafe antreten und deshalb seine hübsche junge Frau für ein paar Tage allein lassen muss. Beide nutzen die Gelegenheit, sich bis zum Morgen ohne Wissen des anderen zu amüsieren: er beim Maskenball des Prinzen Orlowsky, sie mit ihrem heimlichen Liebhaber, der dann aber für den vermißten Häftling gehalten wird und sich, um die Dame nicht zu kompromittieren, abführen lassen muss. Ganz nebenbei weilt auch die Kammerzofe keineswegs bei ihrer angeblich kranken Tante, sondern auf dem bewußten Ball. Verständlich, dass sich nun allerhand Verwicklungen ergeben, insbesondere als auch noch die Ehefrau maskiert die Szene betritt und ihrem Mann, der sie nicht erkennt, als Beweis seiner Untreue die Taschenuhr abluchst. Zudem wird die Zofe im rosa Fummel ihrer Herrin, momentan aber eben ohne denselben, angetroffen. Mehr soll aber nun wirklich nicht verraten werden.
Die Rückfahrt mit der Straßenbahn zum Hotel verläuft relativ ereignislos.