Die Kühe in der Umgebung von Murnau sind keineswegs gelb, und auch die Pferde weder rot noch blau. Was mag in den Bauersleuten vorgegangen sein, als sich um 1910 herum ein paar Maler mit rheinischem oder Berliner oder gar russischem Akzent hier niederließen, in wilder Ehe lebten, mit Jankern und Wadlstrümpfen bekleidet durchs Moor stapften und wertloses Geschmiere auf ihre Leinwände klecksten? Gabriele Münter klagte später, dass sie ihre Bilder noch nicht einmal gegen Lebensmittel einzutauschen vermochte – heute ist jedes von ihnen Millionen wert.
Vom Garten des Münterhauses und erst recht durch die Fenster im oberen Stockwerk genießt man eine herrliche Aussicht auf den Ort, die Kirche und die Burg. Hier lebte Gabriele Münter fünf Jahre lang mit Wassily Kandinsky zusammen und später, nach ihrer Exilzeit, noch viele Jahrzehnte mit ihrem neuen Lebensgefährten Johannes Eichner.
Was tut ein Künstlerehepaar mit seinen Möbeln? Es bemalt sie: mal der eine, mal der andere, mal mit Blauer-Reiter-Pferden, mal mit Blümchen. Sogar entlang des Treppengeländers reiten ein paar blaue und sonstwiefarbige Reiter hinauf. Die Räume sind klein, es ist ja ein Wohnhaus und kein Kunstmuseum. Im Schlafzimmer steht kein Bett mehr und im Musikzimmer kein Klavier, sehr wohl aber gibt es die Eckbank, die als Gemälde heute im Lenbachhaus hängt. Und es gibt den Blick aus den Fenstern an der Gartenseite. Ein Blick, der von beiden Bewohnern im Bild festgehalten wurde, mal eher gegenständlich, mal eher abstrakt und mal fotografisch. Die zugehörige Kamera, ein für heutige Verhältnisse relativ klobiges Gerät, steht am Treppenaufgang.
Das Haus steht am Hang, deshalb liegt der Garten- und heutige Haupteingang eine Etage tiefer. Früh am Morgen hängt noch der Tau in den Dahlien, Krötenlilien und Sonnenblumen des Rondells: ein Erlebnis der besonderen Art, denn normalerweise ist hier nur nachmittags geöffnet. Drüben in der Gartenlaube wurde beim Kaffee die Idee für den berühmten Almanach „Blauer Reiter” geboren. Und im Gartenzimmer, dem heutigen Garderobenraum, lagerten gut versteckt all die expressionistischen Werke, die die Nazis gerne beschlagnahmt, als „entartet” gebrandmarkt und außer Landes verkauft hätten. Der Inhalt dieses „Millionenzimmers” bereichert heute die Sammlung des Münchner Lenbachhauses.
Vom Münterhaus führt uns der Weg durch eine Lindenallee und an einem großen Kruzifix vorbei wieder hinüber in den Ort, wo wir uns nach einer kleinen Mittagspause dem anderen, wesentlich größeren Museum des Ortes zuwenden. Vorher suchen wir aber noch, direkt hinter der Mariahilfkirche, die Grüngasse auf, von der es ein Kandinsky-Gemälde gibt. Die markanten Wohnhäuser sind längst durch Neubauten ersetzt, und die Rückwand der kleinen Kapelle ist nicht mehr blau. Aber war sie das jemals? Wir wissen ja, dass der Maler durch seine Farbwahl die inneren Werte der Dinge sichtbar machen wollte.
Das Schloß ist ein wuchtiger Bau mit vielen Abteilungen auf vielen Etagen. Coronabedingt muss die Gruppe, wie schon gestern im Lenbachhaus, dreigeteilt werden. Und um die Verwirrung komplett zu machen, wechseln zwischen den Fachabteilungen auch noch die Führer. Da biegt man, wenn man sich bei den Gemälden etwas verzettelt hat, auch schon einmal im Treppenhaus in die falsche Etage ab. Ganz am Ende trifft man sich aber bei den Schließfächern wieder, nur: die gesuchten Nummern gibt es hier nicht. Und der Ausgang nebenan ist alarmgesichert. Hilfe, wir haben uns verlaufen! Eine freundliche Aufsichtsperson erklärt uns den Weg nach draußen, der zweite Schliesfachraum ist schnell gefunden, aber wo sind jetzt die beiden anderen Reisegruppendrittel? Die werden doch nicht etwa schon zum Friedhof weitergelaufen sein? Einige bleiben vor dem Schloß sitzen, die Liebste und ich suchen das Grab auf eigene Faust und finden es auch. Nur die Reisegruppe finden wir nicht. Und unten am Hotel wartet der Bus, der schon vor einer Viertelstunde in Richtung Murnauer Moos starten sollte.
Wir fühlen uns aber nur so lange als Nachzügler, bis wir vor dem Hotel einen einsamen Busfahrer antreffen, der sich wundert, wo denn wohl seine übrigen Fahrgäste abgeblieben sind? Aber da kommen sie auch schon, wir müssen einander knapp verfehlt haben.
Der Weg ins Moor führt zunächst entlang einer schmalen Fahrstraße, dann wird der Bus abgestellt, und wir gehen zu Fuß an zwei jener charakteristischen Strohhaufen vorbei, die wir in bunt aus den Gemälden der Blauen Reiter kennen, und suchen zunächst das kleine Kirchlein „Ahndl” auf, das als das älteste weit und breit gilt. Von dort geht es ein Stück ins Moor hinein, der Weg mit tausenden von Herbstzeitlosen gesäumt, dann über einen Bach und an einer kleinen Kuhherde vorbei wieder zurück zum Ähndl und zum Bus. Übrigens: die Kühe waren allesamt braun, Herr Kandinsky!