Das NIU Yen hat einen angenehm großzügigen Früstücksraum, und auch das Frühstück selbst entspricht den Erwartungen. Heute haben wir das Miniatur-Wunderland auf unserer Agenda stehen. Dort gibt es nämlich mit Monaco/Provence und Patagonien zwei neue Abschnitte, die wir noch nicht kennen.
Die Attraktionen der Speicherstadt sind allesamt über die Hochbahnstation Baumwall an das übrige Hamburg angebunden und von dort fußläufig erreichbar. Zum Glück regnet es heute morgen nur mehr leicht, und schon bald stehen wir vor dem Eingang zum Kaispeicher, über dessen zweites bis viertes Stockwerk sich die größte Modellbahn der Welt erstreckt. Genau genommen kommt sie schon seit ein paar Jahren nicht mehr mit dem Platz im ursprünglichen Gebäude aus, also hat man eine Brücke über das Fleet gebaut und sich auch das jenseitige Gebäude erschlossen. Analog zur geographischen Realität sind drüben vor allem die Länder der Neuen Welt untergebracht, was freilich nicht ganz konsequent ist, da sich die USA nach wie vor diesseits des Fleet-Atlantiks befinden. Aber so ist das eben, wenn man immer wieder erweitert: in ein paar Jahren sollen drüben Atacama, Regenwald und Karibik eröffnen.

Eine Herausforderung für die Wunderland-Besucher besteht ja stets darin, die Treppen zur jeweils oberen oder unteren Etage zu finden. Man könnte natürlich einfach die vorgeschlagene Runde laufen, aber weil es so viele Welten gibt, in deren Details man sich immer wieder neu verlieren kann, käme man dann wohl erst spätnachmittags in Monaco an. Wir kürzen also ab und stehen vor der berühmten Formel-1-Strecke, wo soeben die Mini-Boliden die S-Kurve heruntergefahren kommen. Wie an der echten Rennstrecke sieht man von seinem Standpunkt aus immer nur einen kleinen Abschnitt, kann das Rennen aber über die Monitore mitverfolgen. Wo haben die nur die vielen Kameras im Modell versteckt? Natürlich: im Modell-Kameraturm, wo denn auch sonst? Wenige Minuten später ertönt von irgendwo die britische Nationalhymne. Aha, Siegerehrung.
Direkt neben dem monegassischen Zwergstaat erheben sich im Hamburger Modell die Berge und Schluchten der Provence. Der Modellzug passiert gerade das Tal, das vom bekannten Pont du Gard überspannt wird. Gerade eine Zuglänge davon entfernt befindet sich, für Eingeweihte leicht zu identifizieren, die Felsbrücke Pont d’Arc, von der sich ein winziger Klippenspringer in die Fluten stürzt, während von ganz in der Nähe das Geräusch eines fahrenden Mopeds ans Ohr dringt. Wie in der Realität hört man das kleine Zweirad-Teufelchen schon, bevor man es sieht. Aber man hat ja eine zweite, dritte und vierte Chance, immer wenn wieder jemand den Knopf „Moped” drückt: aha, da ist es!
Nun ist es aber an der Zeit, die Brücke hinüber nach Südamerika zu queren, wo man zur Linken auf die schon nicht mehr ganz neue Copacabana stößt. Nach wie vor gondelt hier eine Seilbahn zum Zuckerhut hinauf, nach wie vor sorgt der Gegensatz zwischen den modernen Hochhäusern und wild verschachtelten Favelas für Erstaunen und der Karneval von Rio im Sambadrom für die passende Geräuschkulisse. Und als die Dunkelheit hereinbricht, was im Wunderland alle 15 Minuten der Fall ist, grüßt vom Modell-Corcovado der erleuchtete Cristo Redentor herab.
Für den nachfolgenden Abschnitt müßte man sich nun eigentlich einen Friesennerz überwerfen wie die winzigen Polarforscher, die von ihrem Expeditionsschiff aus die Pinguine beobachten. Was hier von den Modellbauern erschaffen wurde, verdient höchsten Respekt: das stürmisch bewegte Wasser der Drake Street sieht durch die von unten projizierten Schaumkronen so unglaublich echt aus, und auch die kleinen Boote schaukeln so heftig hin und her, dass man schon vom Hinsehen schier seekrank wird. Deutlich entspannter geht es beim kalbenden Morenogletscher zu: die Eisstücke senken sich so bedächtig ins Wasser, als würde eine imaginäre Hausfrau rohe Eier in ihren Kochtopf bugsieren. Hier müssen die Modellbauer wohl noch ein wenig nachbessern. Gut gelungen sind jedenfalls die Gruppen blökender Schafe, die der Schmalspurzug von den Schienen scheucht, während auf Knopfdruck zwei Andenkondore die raumhohen Gipfel umkreisen.
Zurück in der Alten Welt wollen wir noch rasch in die Schweiz reisen, das bekannte Dü-Da-Do (für die Musiker unter uns: cis-e-a) der Postbusse weist akustisch den Weg. Aber was ist das? Wie wir da so auf das gewaltige Matterhorn sehen wie jüngst im Zermatt-Urlaub, öffnet sich auf einmal mitten ih der Anlage eine Bodenklappe, und ein behelmter Kopf lugt daraus hervor. Und dann noch einer, und noch einer. Insgesamt sechs Köpfe zählen wir, bis sich die Klappe wieder schließt und die Teilnehmer der Führung „Hinter den Kulissen” zur nächsten Attraktion weitergeführt werden.
Wer möchte, kann im Wunderland übrigens seine individuelle Modellfigur erwerben und mitten ins Helene-Fischer-Konzert platzieren lassen. Aber dort müßte sie dann „Atemlos” in Dauerschleife ertragen, und das würde man ja wohl noch nicht einmal seinem Avatar zumuten wollen – ein Kühlschrankmagnet für denselben guten Zweck tut es doch auch und erinnert einen zudem viel nachhaltiger an den schönen Besuch.
Im Miniatur-Wunderland kann man übrigens auch stilgerecht essen und trinken: die Tische und Bänke des SB-Restaurants sind einem Speisewagen nachempfunden, mitsamt Fenstern und Landschaft. Welch ein Glück, dass die Modellbauer diese Abteilung bisher übersehen haben und die Miniaturisierung sich nicht auch auf auf die gereichten Portionen erstreckt!
Frisch gestärkt steuern wir nun der berüchtigten Hamburger Reeperbahn zu! Wer bei diesem Stadtviertel zuallererst an ein Rotlichtviertel denkt, ist schief gewickelt, die Flaniermeile hat tagsüber durchaus auch Familientaugliches zu bieten. Eine der ersten Adressen ist hier das Panoptikum, das Wachsfigurenkabinett. Die Tradition dieses Familienunternehmens reicht bis in das 19. Jahrhundert zurück, die heutige Chefin ist die Urenkelin des Gründers. Im Feuersturm des Zweiten Weltkriegs ging zwar das meiste verloren, aber einige Figuren können es an Lebensalter inzwischen durchaus wieder mit dem ihrer Vorbilder aufnehmen.

Die üblichen Schrifttäfelchen bräuchte es bei diesem Museum eigentlich gar nicht, da jedes Exponat auf Anhieb identifizierbar ist. Zur Rechten spendet Papst Benedikt XVI. den Eintretenden seinen Segen, über den Köpfen hängt Otto Lilienthal an seinem Gleitflugzeug, zur Linken hat sich sowohl royale wie auch politische Prominenz versammelt, und bei dem Herrn mit Vatermörderkragen und dunkler Sonnenbrille handelt es sich unzweifelhaft um Karl Lagerfeld. Der Platz neben Helmut Schmidt wäre gerade frei, und man könnte sich neben ihn setzen. Leider ist der alte Herr nicht sehr gesprächig, aber das ist für ein Foto mit ihm ja auch gar nicht notwendig. Gleich gegenüber speisen in einer Nische Helmut Kohl und Dietrich Genscher, wahrscheinlich gibt es Pfälzer Saumagen. Den Herrn, der neben der Treppe sitzt, kenne ich nicht, hat der denn kein Schildchen? Leider nein, aber er steht plötzlich auf und geht weg.
Neben einem pinkfarbenen Cadillac posiert James Dean, auf dem Rücksitz hat Marilyn Monroe Platz genommen, und am Steuer sitzt Elvis Presley, allesamt authentisch gekleidet und ausstaffiert, ebenso wie die vier pilzköpfigen Herren gleich nebenan. Sie waren noch sehr jung, als sie im Hamburger Starclub auftraten, John Lennon trug noch keine Nickelbrille, und auch der Schnauzbart war wohl noch nicht modern. Zum Starclub, wenn es ihn noch gäbe, wären es von hier übrigens fußläufig gerade einmal 10 Minuten.
Die Lieblingsfigur der meisten Besucher ist sicher Otto Waalkes, wie er da in seiner typischen Pose am Brüstungsgeländer lehnt. Oder vielleicht doch Helene Fischer? Oder Taylor Swift? Oder gar Harry Potter? Jede Generation hat ihre Idole, und während der eine sich freut, dem wächsernen Abbild eines Erik Ode oder Roy Black gegenüberzustehen, mag sich der andere vielleicht fragen: wer sind diese Herren denn überhaupt? Und vor allem: stehen die gruseligsten Konterfeis vielleicht gar nicht in der Folterkammer, sondern im Nazi-Kabinett?
Meine persönliche Lieblingsfigur trägt eine wirre Haarpracht und einen grauen Strickpulli und ist mit der Formel E=mc² berühmt geworden. Wirklich schade, dass man mit einer Wachsfigur kein Gespräch führen kann! Aber das kommt sicher noch und wird sicher auch keine weiteren 145 Jahre dauern.
Was indes länger dauert als geplant ist unsere Rückfahrt zum Hotel, denn „es befinden sich betriebsfremde Personen im Gleis” unserer S-Bahn, die deshalb im Hauptbahnhof, also genau eine Station vor unserem Ziel, zunächst auf unbestimmte Zeit stehen bleiben muss, dann vollständig geräumt und schließlich ins Depot verbracht wird. Die beiden Passagiere, die in höchster Eile herangesprintet kommen und in Unkenntnis der Durchsage gerade noch den Zug entern, werden sich schön gewundert haben! Wir anderen überlegen uns derweil, wie wir jetzt an unser Ziel kommen könnten. Hinübergehen zum Bus vielleicht? Gerade als wir uns abwenden wollen, scheint das Problem gelöst worden zu sein, so dass der neu einfahrende Zug nun komplikationslos zumindest bis nach Hammerbrook fahren kann.
Das ist nämlich ganz wichtig für uns, schließlich wollen wir nach dem Umkleiden gleich noch einmal weg ins „Schmidts Tivoli“, wie das Kleinkunst-Theater an der Reeperbahn heißt, dessen Standort wir heute nachmittag schon ausgekundschaftet hatten: man will ja nicht versehentlich im falschen Etablissement landen. Gegeben wird das – nicht ganz jugendfreie – Musical „Heiße Ecke”: es geht um ein paar Menschen, denen das Leben so manchen Stein in den Weg geworfen hat oder noch wirft, und die am Ende doch ein jeder sein kleines Glück finden hier im Kiez.