Man ist nicht in Berlin gewesen, wenn man nicht auch im Humboldtforum war. Zur Zeit läuft dort die interessante Ausstellung über die gerade einmal 14 Jahre währende Geschichte des „Palast der Republik“, der einst das altehrwürdige Berliner Stadtschloss ablöste und dann, weil asbestverseucht, seinerseits vom rekonstruierten Schloss abgelöst wurde.
Aber ganz so einfach war es dann doch nicht. Erstens vergingen zwischen dem Abriß der kriegszerstörten Schlossruine und der Wiederbebauung des leeren Platzes in der Mitte Berlins noch etliche Jahre. Zweitens war der DDR-Prunkbau nach der Sanierung asbestfrei und hätte vielleicht sogar weitergenutzt werden können. Und drittens sieht der Neubau dem alten Schloss zwar äußerlich ähnlich, ist in seinem Inneren aber ein modernes und vielseitig nutzbares Gebäude. Das alles läßt sich in der Sonderausstellung „Hin und weg“ sehr gut nachvollziehen.
Eine Medienstation zeigt zudem, welche Großveranstaltungen der je nach Bühnengröße bis zu 4.442 Zuschauer fassende Saal im Laufe der Jahre gesehen hat. Udo Lindenberg trat dort auf, Carlos Santana, Miriam Makeba, Mikis Theodorakis, natürlich auch die DDR-Rockband „Puhdys” oder der Schlagersänger Frank Schöbel in ”Ein Kessel Buntes“, „Schlag(er) auf Schlag(er)” oder beim Festival des politischen Liedes. Und dann gab es ja auch noch die Parteitage der SED und die Kongresse diverser Organisationen sowie im nördlichen Gebäudeteil die Räume der Volkskammer. Das alles brauchte viel viel Platz.
Als besonderes Highlight wird in einem Nebenraum eine Mixed-Reality-Installation des Künstlerduos „Cyberräuber” angeboten, bei der man mit einer VR-Brille auf dem Kopf frei im Raum herumgehen kann, während ringsum gitterartige Elemente scheinbar im Raum schweben. Man kann sie mit der Hand beiseite schieben, so dass sie mit anderen Elementen in der Nähe kollidieren. Aber das ist nur zum Eingewöhnen, wenig später füllt sich der Raum mit geisterhaften Sitzgruppen, in deren Polstern man sich aber besser nicht niederlassen sollte: es würde mit schmerzhaftem Bodenkontakt enden. Oben an der Decke schweben derweil jene typischen Beleuchtungskörper, die dem Gebäude dereinst den Spitznamen „Erichs Lampenladen“ eingetragen hatten. Seine Mitbesucher wie auch die eigenen Hände samt Armbanduhr sieht man übrigens ebenso schemenhaft, manchmal sogar mit einem Menüsymbol zwischen Daumen und Zeigefinger.
Nach etwa zehn Minuten beginnt sich der Raum mit schwebenden Fotografien zu füllen, die an der Seite jeweils ein blaues Griffstück haben. Man kann sie an dieser Stelle anfassen und zu sich heranziehen, falls notwendig ins Hochformat drehen oder auch einmal von hinten betrachten. Die Motive sind samt und sonders aus den hinterlassenen Notizen anderer Besucher KI-generiert, die Cyberräuber nennen das Erinnerungsspende und geben uns abschließend den Tipp, auch noch die mit VR-Technik arbeitende Ausstellung „Kunst als Beute” in der dritten Etage anzuschauen.
Gesagt, getan! Gleich hinter dem Eingang zu besagter Ausstellung hilft uns eine sympathische junge Frau beim Anlegen der VR-Brillen, die hier die tatsächliche Umgebung vollkommen ausblenden. Aber wo sind wir? Ringsum stapeln sich große Holzkisten, und an der Wand lehnen diverse gerahmte Bilder, darunter das Rembrandt-Selbstporträt, das wir gerade eben erst real in der Ausstellung gesehen haben, und das in der Zeit des Zweiten Weltkriegs im Salzbergwerk Altaussee verborgen war. Und genau an diese Stelle versetzt uns die VR-Technik. Die Minenarbeiter, deren Schatten sich auf den Kistenwänden abzeichnen, schafften es damals, die Sprengung des Bergwerks zu verhindern. Es ist ein faszinierender Ort, den man auch real besuchen könnte, nur eben nicht zu jener Zeit, als der Rembrandt dort eingelagert und vom Totalverlust bedroht war.
Auch die zweite Virtual-Reality-Erfahrung gilt einem Objekt, das im Original in der Ausstellung zu sehen ist und beinahe vollständig verloren gegangen wäre, nämlich die Quadriga auf den Brandenburger Tor. Nach dem Einmarsch Napoleons in die deutsche Hauptstadt 1806, den man oben auf dem Tor stehend miterlebt, gelangte sie zerlegt als Kriegstrophäe nach Paris und wurde dort restauriert, aber nie öffentlich ausgestellt. Nach dem Sturz Napoleons 1814 kehrte die Figurengruppe nach Berlin zurück. Unmittelbar vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde sie, durch Einschüsse stark beschädigt, als Demonstration des Sieges über den Hitlerfaschismus vom Tor gestürzt, demontiert und eingeschmolzen. Allein der Kopf des rechten Pferdes entkam diesem Schicksal, denn er lagerte im Keller eines Berliner Wohnhauses.
Das dritte VR-Bild rankt sich um den balinesischen Dolch aus dem Ethnologischen Museum, den der getötete Wächter im Tempel Goa Lawah noch in der Hand hält. Die niederländischen Truppen hatten hier 1849 während des dritten Bali-Krieges Hunderte Balinesen getötet. Als Schenkung eines deutschen Sammlers, der auf den Inseln Sumatra und Java für die niederländische Kolonialverwaltung tätig gewesen war, gelangte der Dolch 1851 nach Berlin.
Zu den Benin-Bronzen im hinteren Teil der Ausstellung sowie zu den übrigen Beutekunst-Objekten gibt es kein VR-Erlebnis, wir gelangen von dort quasi übergangslos in die neue, sehr weitläufige Dauerausstellung „Asien”. Der sich allmählich meldende Hunger läßt uns nach einem Aufzug Ausschau halten, schließlich wissen wir irgendwo unter uns im Erdgeschoß das Bistro „Lebenswelten”, auf dessen Speisekarte leckere Königsberger Klopse stehen. Allerdings verbindet der Lift nur die beiden Ausstellungs-Etagen, der Weg zur Futterkrippe führt über die Rolltreppen im Foyer.
Unseren Rückweg zum Hotel vertrauen wir dieses Mal den U-Bahnen U5, U6 und U3 an. Viel Zeit haben wir nicht, denn heute abend steht nun die Opernaufführung der „Frau ohne Schatten” auf dem Programm. Staatsoper und U-Bahnhof tragen zwar beide den Namen „Unter den Linden”, aber der Berliner Prachtboulevard ist lang, deshalb bemühen wir noch kurz den Bus 100 und vertreiben uns die gottlob kurze Wartezeit mit einem Blick ins DRIVE der Volkswagen Gruppe, wo im Eingangsbereich unter anderem ein alter Brezelkäfer und ein schmucker weiß-roter Samba-Bus ausgestellt sind. Warum sich aber die Bushaltestelle trotz des eindeutigen Namens nicht direkt vor dem Operneingang befindet, weiß wohl nur die BVG.
Die Staatsoper unter den Linden ist ein frisch renoviertes Opernhaus mit drei Rängen, wir sitzen im zweiten links, ganz vorne in der ersten Reihe. Die Handlung der Oper, für deren Libretto der Dichter Hugo von Hofmannsthal zeichnet, rankt sich in ihrem Kern um die Probleme des Färbers Barak mit seiner zänkischen Ehefrau („Sie haben mir gesagt, dass ihre Rede seltsam sein wird und ihr Tun befremdlich die erste Zeit”) und um die Frage, ob die Frau ihren für Fruchtbarkeit und menschliche Empathie stehenden Schatten nicht an die Kaiserin abtreten könnte, die als Tochter des Geisterkönigs dringend einen solchen gewinnen muss, weil anderenfalls der Kaiser nach Ablauf der gesetzten Frist zu Stein erstarren wird. Dreh- und Angelpunkt des Dramas ist natürlich die Menschlichkeit, die sich allmählich im Mitgefühl der Kaiserin für einem gepeinigten Menschen zeigt, und die sie die ihr unwissentlich auferlegte Prüfung dann schließlich auch bestehen läßt, denn sie möchte nicht ihr eigenes Glück auf Kosten der Färbersleute erkaufen.
Das alles zieht sich über drei Akte hin, mit zwei Pausen dazwischen, in denen sich wieder einmal bewahrheitet, dass Zeit relativ ist: ohne Pausenbier dauert eine Pause relativ lang, mit Pausenbier relativ kurz, und am kürzesten ist sie für diejenigen, die an der Theke für ihr Pausenbier anstehen müssen. Damit uns dieses Schicksal erspart bleibt, ordern wir es im voraus. Prompt steht es einladend auf Tisch 27 für uns bereit, direkt neben der Warteschlange: oh je, und wir sollen doch Empathie für gepeinigte Mitmenschen zeigen! Ob wir jetzt unseren Schatten verlieren? Der Egoist, der ein paar Sitze weiter in Blickrichtung Bühne seine volle Leiblichkeit samt Ellbogen über der Brüstung hängt, damit er alles gut sehen kann, glaubt jedenfalls ganz fest an seine Durchsichtigkeit.
Erstaunlich finden wir auch, dass an den Zuschauerrängen dieses Theaters insgesamt mehr als 100 Bühnenscheinwerfer montiert sind, die eigentlich gar nicht gebraucht werden: unsere Oper heißt ja „Die Frau ohne Schatten” und nicht „Die schattenfrei ausgeleuchtete Frau”.