Zermatlantis

Die Walser und insbesondere die Zermatter sind sehr gastfreundlich. Das mag daran liegen, daß Zermatt  schon seit 160 Jahren fast ausschließlich vom Tourismus lebt. Oder daran, daß heuer weniger Touristen kommen als sonst. Oder eben, weil sie von Natur aus gastfreundlich und weltoffen sind.

Das Ferienappartement „Bolero” war schon auf uns vorbereitet, als wir gestern hier eintrafen. Im Briefkasten, an dem unsere Namen standen, fand sich ein Umschlag mit den Schlüsselkarten darin, die Wohnungstür war mit einem „Willkommen”-Herzchen und ebenfalls unseren Namen markiert. Seit gestern kennen wir auch die Vermieterin, Frau Julen. Sie erklärte uns den Herd und zeigte uns die Stelle, wo die Bedienungsanleitung gelegen hätte. Die hatten wir nämlich vergeblich gesucht. Auch die Kaffeemaschine ist nun frisch gereinigt, macht aber auch weiterhin nach der dritten Tasse schlapp.

Die Zermatter Tourismusgeschichte begann 1860 im „Goldenen Zeitalter des Alpinismus”. In diese Zeit fiel auch die Erstbesteigung des Matterhorns, die vier von sieben Bergsteigern nicht überlebten: sie stürzten die Nordwand hinunter. Und sie blieben nicht die einzigen, die am Berg der Berge ihr Leben ließen, wie der Bergsteigerfriedhof unterhalb der Kirche zeigt.

1891 wurde die Eisenbahnlinie eröffnet und füllte die ersten großen Hotelbauten mit touristischem Leben. In den Jahren ab 1914 und ab 1939 kam der Auslandstourismus fast zum Erliegen und boomte dann wieder ab 1960, jetzt aber vorwiegend im Winter. Vor unserem geistigen Auge entsteht ganz unten schon eine neue Zeile: 2020 starke Einbrüche aufgrund der Corona-Epidemie. Der Glacier-Expreß zum Beispiel kam uns gestern am Oberalppaß nahezu leer entgegen.

Unser Ferienhaus allerdings ist gut belegt. Die Schweizer Nachbarn, die ich über das Balkongeländer hinweg nach dem WLAN-Passwort fragte, antworteten verwundert: ja, steht das denn nicht auf Ihrem Schlüsselumschlag? Tatsächlich! Jeder blamiert sich hat so gut wie er kann.

Das Wetter ist mäßig, aber laut Wetterbericht haben wir Traumtage vor uns. Bei solchen Aussichten lohnt es sich, eine Sieben-Tage-Karte für die Bergbahnen zu erwerben. Denn Einzelfahrten sind teuer, um nicht zu sagen, sehr teuer: allein schon der Gornergrat würde ein 119 Franken teures Loch ins Budget reißen. Pro Person, versteht sich. Jetzt könnten wir also sieben Mal dort hinauf, für 367 Franken. Oder aber jeden Tag eine andere Bergbahn nehmen. Es gibt ja so viele davon.

Das „untergegangene” Zermatt von 1850

Das Wetter, die vorläufige Unsichtbarkeit der Berge sowie der Wunsch nach Akklimatisierung treiben uns in eine der interessantesten Attraktionen des Ortes: das Matterhorn-Museum. Es sieht auf den ersten Blick unspektakulär aus, aber nur, bis man registriert hat, daß der gläserne Kristall mit der Warteschlange davor nur das Zugangsgebäude ist, das eigentliche Museum liegt unterirdisch. Wegen Corona dürfen nur 60 Besucher gleichzeitig hinein, wir stehen offenbar auf Platz 81 und 82. Und dann ist es endlich so weit.

Als akkreditierter Journalist darf ich mit Stativ fotografieren. „So so, Sie haben also mit Herrn Graf korrespondiert, wissen Sie denn, wer der Herr Graf ist?”, fragt mich die Kassendame verschmitzt. Ich verneine. „Das ist der Herr, der Sie soeben hereingelassen hat.” Ach, so! Ich gehe noch einmal zurück zu ihm, stelle mich vor („aha, Sie sind also der Mann mit dem Stativ”), wechsle ein paar warmherzige Worte und fühle mich jetzt noch willkommener als schon zuvor.

Unten, im eigentlichen Museum, lernen wir dann auch noch den Direktor kennen, Herrn Schmidt. Er und sein Team sind eifrig bemüht, das Kino wieder instand zu setzen. Auch hier ist Zeit für einen kurzen, anregenden Plausch. Und dann nimmt uns das Museum fesselnd gefangen, zwei Stunden lang: die alten Holzhäuser mit ihrer authentischen Einrichtung, die Geschichte der Matterhorn-Erstbesteigung samt gerissenem Seil, das besagte Kino mit Ausschnitten aus dem Trenker-Film „Der Berg ruft”, der Fund vom Theodulgletscher, wo ein mit Pistole und Säbel bewaffneter Mann mitsamt seinem Maultier 400 Jahre lang im Eis begraben lag, das kleine Kirchlein, das eigentlich nur ein halbes Kirchlein ist, dank eines raumhohen Spiegels allerdings seine fehlende Hälfte perfekt ergänzt, das Arbeitszimmer des Geologen Saussure, der vom Gletscher aus erstmals die Höhe des Matterhorns vermaß, und noch vieles mehr.

Category: Allgemein, Zermatt 2020
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