Ein halbes Matterhorn

Touristen müssen, damit sie visuell nicht überfordert sind, erst einmal ganz langsam an den Anblick des Matterhorns gewöhnt werden. Heute etwa zeigt man uns erst einmal nur dessen untere Hälfte. Gegenüber gestern, wo der berühmte Ausblick von der Kirchenbrücke über das Flüßchen auf das alles überragende Matterhorn nur aus Brücke und Flüßchen bestand, ist das aber schon ein erheblicher Fortschritt.

Und wir haben ja auch Zermatt noch gar nicht richtig gesehen. Das Bergdorf war dereinst eine Ansiedlung aus kleinen Holzhäusern und Stadeln. Die grob behauenen Balken gleichermaßen verwittert und windschief, unterscheiden sich die beiden nur durch das Vorhandensein blumengeschmückter Fenster bei den einen und Mäusesteinen bei den anderen. Was sind Mäusesteine? Nun, so ein Stadel lädt natürlich auch ungebetene Gäste ein, die mutig vom Hunger an den hölzernen Pfählen emporklettern könnten. Um das zu verhindern, ist zwischen Pfahl und Gebäude eine Steinplatte eingefügt, als ein unüberwindliches Hindernis für die kleinen Nager.

Die Stadel standen früher über die ganze Talschaft verstreut, und das tun sie auch heute noch, nur daß dazwischen keine Wiesen mehr sind, sondern Häuser und Hotels. Offenbar wurde aber kein einziges Holzhaus jemals abgerissen. Entlang der Straßen des alten Ortskerns stehen sie noch immer dicht an dicht und sind auch nach wie vor bewohnt, wie die Briefkästen und die roten Geranien vor den Fenstern zeigen. Es wohnt sich sicher auch sehr behaglich darin.

Zermatt ist im Laufe der Jahrzehnte immer mehr gewachsen, man hat aber strikt auf einen gefälligen Baustil geachtet, ohne Flachdächer, dafür aber mit viel Holz und üppigem Balkongrün. Heute wird nur noch wenig gebaut, es ist ja auch kaum Platz mehr übrig, und vieles steht schon jetzt in spektakulärer Lage mit sicher ebenso spektakulärem Ausblick.

Gegen Abend legt das Matterhorn zum ersten Mal seinen Schleier ab. Nicht gänzlich zwar, aber immerhin so weit, daß hin und wieder der Gipfel sichtbar wird. Es hat frisch geschneit da oben, über die Nordwand fallen immer wieder kleine Neuschnee-Lawinen herab, und die Kante des Hörnligrates läßt ebenso zarte Wolkenfahnen über die Ostwand wehen. Alles in allem ein recht unterhaltsames Programm, das Vorfreude weckt, denn ab morgen soll sich das Wetter ganz erheblich bessern.

Category: Allgemein, Zermatt 2020
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