Grund unserer Reise sind die Puccini-Festspiele in Torre del Lago, die dortige Seebühne liegt etwa eine Stunde Fahrzeit vom Hotel entfernt. Wir haben aber viel Zeit, sehr viel sogar. Denn die Vorstellung beginnt erst eine Viertelstunde nach Neun. Als Vorprogramm werden wir Pisa und den Schiefen Turm besichtigen. Allerdings auch erst relativ spät, damit bis zu unserer Rückkehr am sehr späten Abend für den Busfahrer nicht mehr Lenkzeit anfällt als erlaubt. Als Abfahrtszeit wird 12 Uhr 20 ausgerufen.

Verbringen wir die Zeit also im nahen Kurpark! Das Städtchen am Südhang des Apennin ist längst nicht mehr so mondän wie in der Epoche der Bäderreisen, als hier eine Therme neben der anderen um Gäste buhlte und deswegen auch attraktiver sein wollte als die Konkurrenz nebenan. Heute sind die Anlagen verfallen, die Häuser verwittern und zerbröseln allmählich, und überall breitet sich Grünzeug aus. Schade, dass man nicht hineingehen darf, um diese malerische Morbidität aus der Nähe zu studieren. Es wäre aber wohl zu gefährlich, und so müssen wir uns mit neugierigen Blicken über den Zaun begnügen.
Auch für einen Supermarktbesuch wäre noch etwas Zeit, schließlich haben wir heiße und durstige Tage vor uns. Aber wo? Das Smartphone führt uns zu einem Markt ganz in der Nähe, aber der hat seine Türen offenbar für immer geschlossen. Die Liebste fragt eine Italienerin, die gerade in ihr Auto steigt und einheimisch aussieht. Zu unserem Erstaunen erklärt sie uns in fließendem Englisch den Weg zum nächsten CONAD Markt und schätzt die Gehzeit bis dorthin auf 10 Minuten. Mille grazie! Zur Sicherheit befrage ich, als wir außer Sichtweite sind, noch einmal mein schlaues Gerät: 9 Minuten Fußweg. Das sollte zu schaffen sein und ist es auch. Das Personal bei CONAD ist ausgesprochen zuvorkommend, und die Preise günstig. Nun sind wir also für’s erste versorgt: mit Softgetränken, Birra und Aperol. Und auch der Fußweg durch die Stadt war durchaus angenehm, da es hier erstaunlich wenig Autoverkehr gibt. Wie machen die Italiener das nur?
In Pisa erwartet uns die gebuchte Stadtführerin, eine sympathische junge Frau, die offenbar in Deutschland aufgewachsen ist. Leider liegt der Busparkplatz ziemlich außerhalb. Teuer ist er trotzdem, aber was will man machen, die Vorschriften für Touri-Gruppen sind nun einmal so.
Der Stadtplan, an dem wir auf dem Weg zum Dombezirk kurz stehen bleiben, sieht von weitem wie der von Nürnberg aus: ein schiefes Rechteck, ein horizontal querender Flußlauf, und das Wichtigste befindet sich in der linken oberen Ecke.
Wir sind auf dem Weg zu jenem Campanile, der heute bei weitem nicht so berühmt wäre, hätten seine Baumeister im 12. Jahrhundert nicht buchstäblich auf Sand gebaut. Wie schräg er wirklich steht, der Schiefe Turm von Pisa, wird nirgendwo deutlicher wie an der Stelle, wo er mit der senkrechten Außenwand des Doms kontrastiert. Doch, eine weitere Stelle gibt es, und zwar direkt vor der Tür, die in das Turminnere führt. Das Gelände ist an dieser Stelle etwas eingetieft, und das sei auch der Grund, warum die Neigung in den letzten 150 (?) Jahren immer stärker wurde, heißt es, denn es fehle das stabilisierende Gewicht des Erdreichs. Ich selbst vermute ja einen anderen Grund, und zwar den Umstand, dass sich Regenwasser immer an der tiefsten Stelle sammelt und von dort ins Erdreich dringt. Wie dem auch sei, das bevorstehende Umfallen des Turmes konnte quasi im letzten Augenblick verhindert werden, und heute darf man ihn sogar wieder betreten: angesichts des Andrangs eine Geduldsprobe, und das bei 40 Grad im Schatten!
Zuletzt hatte man die Turmneigung so gut im Griff, dass man ihn durchaus auch wieder in die Lotrechte hätte bringen können, erzählt die Stadtführerin. Aber niemand in Pisa würde einen geraden Turm wollen. Und zudem ist das Bauwerk auch in sich selbst schief, da man die zunehmende Neigung schon während der Bauphase bemerkte und ihr durch unterschiedliche Säulenlängen entgegen wirkte. Auch die Zahl der Treppenstufen zur Glockenstube, dem obersten Turmabschluss, soll auf der geneigten Seite größer sein. Geläutet wurden die Glocken übrigens zum letzten Mal in den 1950er-Jahren, dann wurde die Angst um die Stabilität des Turms mächtiger als die Traditionen.
Dass Galileo Galilei seine Fallversuche vom Turm aus durchführte, sei eine unbestätigte Legende, sagt Stadtführerin Christina, denn das hätte Galilei in seinen Schriften sicherlich erwähnt („Hätte er das getan, dann hätte er das getan”).
Wie schwierig es in Pisa ist, Gebäude senkrecht in die Höhe zu bauen, zeigt sich auch am Dom. Man sieht es zwar nicht auf den ersten Blick, aber der Kronleuchter hängt keineswegs genau mittig. Und was mögen sich die Baumeister wohl gedacht haben, als sie die Marmorfiguren unter der Kanzel so einbauten, dass die Heiligen in Richtung Wand schauen? Hatte ihnen die sommerliche Hitze die Sinne vernebelt? Wohl kaum, denn im Dom ist es angenehm kühl.
Neben Turm und Kirchenschiff gibt noch ein drittes markantes Bauwerk auf dem Domplatz: das achteckige Baptisterium. Der Bau war nötig geworden, weil Ungetaufte nicht in die Kirche durften. Wie also hätte man sie da in der Kirche taufen sollen?
Wie erfindungsreich die Toskaner sind, erfahren wir wenig später im nahen Viageggio, wo wir eine späte Mittagspause – im Leitner-Jargon Freizeit – einlegen. Nachdem alle ein wenig flanieren waren, und obwohl es Alternativen gegeben hätte, findet sich die halbe Reisegruppe in der nahen Pizzeria ein, die ohne unsere Gruppe heute einen schlechten Tag gehabt hätte, denn wir waren die einzigen Gäste. Das WC dieses Lokals befindet sich oben im ersten Stock, wo auch die Möwen hausen. Wie man am Waschbecken das Wasser aufdreht? Nun, es gibt unten zwei Fußhebel: einen roten und einen blauen. So muss man, gänzlich ohne Elektronik, mit seinen sauberen Händen nichts mehr weiter anfassen.
Von hier bis zur Seebühne nach Torre del Lago ist es jetzt nur noch ein Katzensprung, zumindest theoretisch. Denn das Navi kommt wohl nicht so recht mit den Abmessungen eines Reisebusses klar. „Der PKW kam auch durch” bemerkt die Liebste trocken, als wir aus einer engen Straße mit einer noch engeren Unterführung rückwärts wieder heraus rangieren müssen.
Einmal noch nach links abbiegen, dann sind wir auf der Zielgeraden zum See. Aber wie – Stichwort Platanen? Nach rechts herum geht es aber. Jetzt käme ein Kreisverkehr gelegen, aber immer wenn man einen solchen braucht, kommt keiner. Man sollte für solche Fälle immer einen Reserve-Kreisverkehr im Handschuhfach haben. Nach mehreren Kilometern ist es schließlich so weit, wir umrunden den einzigen Kreisel weit und breit, und nun sollten wirklich keine Hindernisse mehr auftauchen.
Als die Straße schließlich vor einer Schranke endet, fragt der dortige Platzanweiser in geschliffenstem Schwyzerdütsch zum Fenster herein, warum wir denn nicht auf dem Busparkplatz parkiert hätten? Busparkplatz? Tatsächlich wäre da irgendwo ein Verkehrszeichen gewesen, aber das ehemals blaue Schild hatte sich längst wie ein Chamäleon der Umgebung angepaßt. Also Busparkplatz! Schließlich wollten wir uns ja alle noch operngerecht umziehen, und das wäre an der Stelle, wo wir zum Aussteigen nur 5 Minuten hätten stehen bleiben können, nicht möglich gewesen.
Am Ende dieses langen Tages und nach zwei weiteren langen Stunden bis zum Vorstellungsbeginn sitzen wir dann also tatsächlich im Stadion, wo gleich der Wettkampf … Späßle, vor uns liegt die Seebühne, auf der gleich eine Aufführung von Puccinis „Tosca” beginnen wird. Ohne Seeblick, denn es ist bereits ziemlich dunkel. Dafür aber mit Mondsichel zur rechten.
Im ersten Akt trifft der politische Gefangene Angelotti in einer Kirche auf seinen Freund, den Maler Cavaradossi, der ihn in der Sakristei versteckt. Das weckt den Argwohn seiner Geliebten, die hinter alledem eine andere Frau vermutet. Der Irrtum wird aufgeklärt, aber Polizeichef Scarpia läßt den Maler, der Angelottis Versteck nicht preisgeben will, foltern und droht mit dessen Hinrichtung, sollte Tosca ihm nicht zu Willen sein. Die geht zum Schein darauf ein, erbittet aber ein Schriftstück mit der Begnadigung. Als sie es hat, erdolcht sie Scarpia. Der allerdings hatte sie betrogen, so dass die Hinrichtung am Ende doch noch erfolgt und Tosca vor Kummer von der Engelsburg springt. Irgend jemand stirbt eben immer in einer Oper, in dieser sind kurz vor Mitternacht sogar alle tot und die Oper zu Ende. Darauf trinken wir einen. Im Bus, auf dem Heimweg.