Nach einer relativ kurzen Nacht könnten wir das Frühstück getrost auch weglassen, denn für 12 Uhr ist heute im Hotel ein Mittagessen angesetzt. Wir frühstücken trotzdem. Die Wirtin spricht fließend deutsch mit Oberpfälzer Einschlag, denn ihre Mutter stammt aus Waldsassen. Wo es ihr denn besser gefiele, in Italien oder in Deutschland? Letzteres, sagt sie, aber ihr Mann will nicht weg von hier. Verständlich, denn die Toskana ist wirklich eine zauberhafte Region. Und weil sie deutsch spricht, kann man sie auch necken: fragt sie etwa beim Übergeben des leer gewordenen Kruges „ist das Sojamilch?”, antworte ich scherzhaft „nein, Luft”. Ok, ich sehe es ein: gestreßtes Personal ist dieser Art von Humor abhold.
Zum Mittag gibt es Lachs. Ohne Gummiband. Frisch gestärkt brechen wir sodann nach Lucca auf. Das ist ein malerisches Städtchen auf halber Strecke zwischen Montecatini und Torre, wo wir auch heute wieder einer Opernvorstellung beiwohnen werden.

Der Parkplatz für Reisebusse befindet sich auch in Lucca weit außerhalb der Stadtmauern, bei 40 Grad im Schatten kämen wir alle völlig erschöpft am Dom an, denn der liegt vom Parkplatz aus gesehen am jenseitigen Rand der Kernstadt. Thomas hat aber eine bessere Idee und setzt uns an jenem Stadttor ab, das dem Dom am nächsten liegt.
Wir beide wollen aber gar nicht zum Dom, sondern zum Geburtshaus Puccinis, das sich ziemlich genau im Zentrum des Zentrums befindet. Was würden wir nur ohne das Smartphone-Navi machen? Wir müßten dann ja den vielen Wegweisern zum Casa natale folgen. Wie dem auch sei, wir finden das von außen eher unscheinbare Gebäude und – es ist abgeschlossen! Wieso das denn? Sollen wir klingeln? Ein Täfelchen neben der Tür verweist auf das Ticket Office, das sich an der gegenüberliegenden Seite des Platzes befindet. Aber wie geht es nun weiter? Die Tür zum Puccinihaus ist ja nach wie vor verschlossen? Händigt man uns vielleicht einen Schlüssel aus? Des Rätsels Lösung: wir mögen bitte klingeln.
Es ist ein wenig wie in einem alten Roman oder Film: man wird nach einem Losungswort gefragt, und nur wer die richtige Antwort weiß, wird eingelassen. Im unserem Fall heißt die Frage „Avete già un biglietto?” und die Parole „Si!”. Für uns Touristen spielt sich dieser Dialog natürlich auf englisch ab. Wie viele hier wohl täglich unbedarft anläuten und dann erst einmal wieder weggeschickt werden müssen?
Die Wohnung, in der der große Komponist 1858 geboren wurde und eine glückliche Kindheit und Jugend verlebte, liegt oben im zweiten Stock. Einen Aufzug gibt es nicht, für den Notfall aber einen Treppenlift. Zwei freundliche Bedienstete, ein Mann und eine Frau, überprüfen noch einmal unsere Tickets und händigen uns je ein beidseitig bedrucktes Blatt in deutscher Sprache aus, dann dürfen wir den Raum betreten, dessen Schaustück Puccinis Steinway-Flügel ist. Auf diesem Instrument wurde Turandot komponiert: die Oper, die wir heute abend sehen werden. Dass Puccini kurz vor der Vollendung dieses Werkes an Kehlkopfkrebs verstorben ist, wissen wir bereits. Und auch, dass sich sein Todestag heuer zum hundertsten Mal jährt. Er war also gerade einmal 66 Jahre alt geworden
Es folgen viele weitere Räume, die fast alle eines gemeinsam haben: zentrales Ausstellungsstück ist ein Kostüm aus einer seiner Opern, eines schöner wie das andere. Nur einmal nicht, da füllt das Bett seiner Eltern den gesamten Raum aus. Aber sogar in das kleine Ankleidezimmer nebenan hat man ein textiles Outfit gestellt, in diesem Fall die Abendrobe des Meisters persönlich. Und einen anderen Raum hätten wir beinahe übersehen, denn neben dem Durchgang zur Treppe prangt ein Schild mit stilisierten Männlein und Weiblein. Das kennt man ja irgendwie. Allerdings sind es deren vier, was dann doch Anlaß genug ist, auch den Text zu lesen: es dürfen nur vier Personen gleichzeitig in den Raum, der einst die Dachkammer war und heute daher folgerichtig eine Szene aus La Bohème zeigt.
Bevor wir wieder hinaus ins Foyer treten, wo in einem gesonderten Raum das mit Abstand schönste aller Kostüme ausgestellt ist, kommen wir noch am Grammophon vorbei. Nanu, fehlt bei diesem Gerät etwa der so typische Schalltrichter? Mitnichten, aber er befindet sich im Inneren des Möbels, unterhalb des Plattentellers. Unsereiner möchte natürlich sofort wissen, welche Platte da aufliegt: es ist „E lucevan le stelle” (Und es leuchteten die Sterne) aus Tosca, gesungen von Enrico Caruso. Schade, dass die Aufnahme nicht abhörbar ist. Dafür dürfen wir aber ausgiebig das bereits erwähnte Bühnenkostüm bewundern, das die Sopranistin Maria Jeritza bei der Erstaufführung an der New Yorker Metropolitan Opera trug. 1926 war das, ein halbes Jahr nach der Uraufführung an der Mailänder Scala.
Ob wir es nach diesem unerwartet ausgiebigen Museumsbesuch noch zum Dom schaffen? Es sind knapp 10 Minuten Wegstrecke bis dorthin und dann noch einmal 10 Minuten bis zum Bus, der in genau einer halben Stunde an der uns bekannten Stelle wieder abfahren soll. Einen Versuch ist es wert! Wir bewundern den Dom aber nur von außen, denn für einen kurzen Blick ins Innere Eintritt zu bezahlen will mir unökonomisch erscheinen. Auch das berühmte sogenannte Fingerlabyrinth an einer der Säulen der Vorhalle ließe sich mit etwas Geduld sicher lösen, aber die Zeit drängt, und Punkt 16 Uhr sitzen alle im Bus. Alle bis auf zwei, denn die hatten sich verlaufen.
Den Weg nach Torre del Lago und zum Busparkplatz kennen wir ja nun schon. Was wir noch nicht kennen, zumindest nicht von innen, ist Puccinis Wohnhaus am See, wo es ihm so ausgesprochen gut gefiel, weil er hier seiner Jagdleidenschaft nachgehen konnte, und wo er eigentlich alt werden wollte. Aus zwei Gründen gelang ihm das nicht: zum einen, weil man ihm ein lautes und häßliches Kraftwerk direkt vor den Garten stellte. Und zweitens, weil er fortan nicht mehr lange zu leben hatte.
In einer Führung dürfen wir das Haus kennenlernen. Eigentlich ist unsere Gruppe aber zu groß für ein Wohnhaus wie dieses, und wir sehen das Förster-Klavier nur von weitem. Puccini liebte dieses Instrument so sehr, dass er sich eine Grabstätte Wand an Wand damit wünschte. Dieser Wunsch wurde ihm später tatsächlich auch erfüllt, sein marmorner Kenotaph steht an der Wand der kleinen Hauskapelle, die unmittelbar an das Klavierzimmer angrenzt. Und wird es gespielt, kann er das in seiner Gruft in der Wand sicher hören, genau wie seine Frau, sein Sohn, seine Schwiegertochter und seit ein paar Jahren auch seine Enkelin.
Für heute abend steht nun also Turandot auf dem Spielplan der Seebühne. Da wir bis zum Vorstellungsbeginn wieder etwas Zeit haben, wollen wir uns im Café einen Eiskaffee gönnen. Aber der italienische Kellner versteht nicht so recht, was wir da bei ihm bestellen möchten, und so serviert man uns schließlich zwei Gläser kalten Kaffee mit Eiswürfeln darin.
Turandot ist ein Dreiakter, der zweite und der dritte Akt haben jeweils zwei Bilder. Es geht in der Oper um eine schöne chinesische Prinzessin, die jeden Freier köpfen lässt, der ihre drei Rätsel nicht lösen kann. Soeben ist wieder einer durchgefallen, der dreizehnte in diesem Jahr. Ping, Pang und Pong, die Minister des Kaisers, sowie auch der Vater, dessen Sklavin Liù und sogar der Kaiser selbst versuchen Prinz Calàf, der ebenfalls den Bewerbungsgong schlagen will, von seinem Plan abzubringen, aber vergebens.
Gegen Ende des zweiten Aktes geschieht das Unglaubliche: der fremde Prinz kann alle drei Rätsel lösen. Nun aber zickt die Prinzessin herum und will, obschon sie im Wort steht, ihren Teil der Abmachung nicht erfüllen. Man einigt sich darauf, dass sie ihrerseits eine Aufgabe gestellt bekommt: sie soll den Namen des Fremden herausfinden und betraut nun ihre Wachen damit, die Sklavin zu foltern, da sie die einzige ist, die ihn kennt. Aus Liebe zum Prinzen und um ihn nicht unter der Folter doch noch zu verraten, erdolcht sich das Mädchen. Das ist aber eigentlich schon die Handlung des dritten Aktes, dem gestern bei Tosca eine halbstündige Pause vorausgegangen war.
Eigentlich sollte jetzt auch noch ein Happy End folgen, stattdessen verbeugen sich unerwartet die Darsteller zum Schlussapplaus. Dann geht das große Licht an, und der Mann am Lichtmischpult deckt sein Lichtmischpult zu. Alle bleiben betreten sitzen: warum dieses plötzliche Ende? Ich erinnere mich gelesen zu haben, dass Puccini verstorben war, bevor er die Oper zu Ende komponiert hatte. Und genau dieses vorzeitige Ableben des Maestro hatte die Aufführung nun nachvollzogen, den fremd hinzu komponierten Schluss weglassend.
Statt erwartungsgemäß noch etwas länger zu dauern als gestern ist die Aufführung unerwartet so früh zu Ende, dass die ersten Rückkehrer den im Bus schlafenden Busfahrer wecken müssen. Und so geht dieser Abend ähnlich zu Ende wie der letzte: mit einem Absacker aus dem Kühlfach des Busses, während dieser über die Autostrada unser Quartier ansteuert.