Zwei Matterhörner

Man war nicht in Zermatt, wenn man nicht mindestens einmal mit der Zahnradbahn auf den Gornergrat gefahren ist. Und das seit nunmehr 122 Jahren.

Der rotbraune Zug startet so pünktlich, daß man die Uhr danach stellen könnte. Schweizer Präzision eben. Mit wechselnden Vordergründen, aber immer demselben Hintergrund gewinnt der Zug, unterstützt von seinem Zahnrad, rasch an Höhe. Schon sind wir über der Baumgrenze, fahren durch grüne Matten, die immer mehr von Felsen durchsetzt sind, bis schließlich nur noch Felsen vor den Fenstern vorbeiziehen. Gornergrat! Die Sonne lacht vom Himmel, die Luft ist warm, und die vielen Menschen verteilen sich rasch entlang der Aussichtspunkte.

Eine etwas exponierte Stelle hat es mir besonders angetan. Da stelle ich mich auch hin, wenn die Frau vor mir weg ist, sage ich. Rasch springt die Genannte zur Seite. Vertreiben wollte ich Sie jetzt nicht, versuche ich mich bei ihr zu entschuldigen, wir haben doch Zeit. Eigentlich nicht, antwortet sie, die Gletscher schmelzen nämlich rapide dahin.

Nun, ganz so schnell geht es dann doch nicht. Aber hier in Zermatt und speziell am Gornergletscher und seinen seitlichen Zuflüssen hat man den beträchtlichen Schwund der letzten Jahrzehnte fast überall vor Augen. Die seitlichen Eisströme enden mittlerweile, noch bevor sie den Hauptstrom erreichen, der ehemals erheblich höhere Stand der Gletscheroberfläche ist deutlich zu erkennen. Sogar der Hauptstrom selbst ist abgerissen, und der untere Teil des Gornergletschers wird nur noch von seinem mächtigsten Zufluß, dem Grenzgletscher, gespeist.

Etwas unterhalb der Gipfelstation, genauer gesagt in der Nähe des vorletzten Haltepunktes, soll es einen kleinen See geben, in dessen Wasseroberfläche sich bei Windstille das Matterhorn spiegelt. Der See ist schnell gefunden, aber wir sind natürlich nicht die einzigen hier, und bei dem Gewimmel und Geplärre rundum will sich keine rechte Stimmung einstellen. Aber es gibt weiter unten noch einen zweiten, etwas kleineren See. Um ihn zu finden, folgt man einfach den Alphornklängen. Der Alphornist spielt nicht perfekt, aber immerhin gut genug, um das Schweizgefühl noch mehr zu heben als es der Anblick des Matterhorns ohnehin schon die ganze Zeit über tut.

Und dann stehen wir endlich am wollgrasbewachsenen Ufer jenes kleinen Bergsees, dessen Wasser das steinerne Dreieck am Horizont in jene markante Raute verwandelt, derentwegen wir hergekommen sind.

Mental schon auf jenen Menschentyp eingestellt, der den später Ankommenden gerne ein Spiegelbild mit einer Picknickgruppe mittendrin beschert, sind wir angenehm überrascht, daß nur gelegentlich eine Rot- oder Blaujacke ein Weilchen am gegenüberliegenden Ufer herumzappelt und dann das Bild wieder freimacht.

Der große und der kleine Spiegelsee verdoppeln übrigens nicht nur die Berge und alles, was sich sonst noch über ihre Ufer erhebt. Auch jeder der kleinen Fische wird von einem Schatten begleitet. Und sogar die Libellen schwirren im Doppelrumpf einher. Ach so, die paaren sich.

Category: Allgemein, Zermatt 2020
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