Um von Nürnberg nach Hamburg zu gelangen, braucht ein ICE rund viereinhalb Stunden. Da ist es gut, wenn man einen reservierten Sitzplatz in der ersten Klasse hat. Unsere Plätze mit den Nummern 55 und 56 befinden sich im Wagen 11. Was da aber morgens um halb acht auf Gleis 7 einrollt, hat gar keinen Wagen 11, denn der hintere Zugteil fehlt komplett, und die Navigator-App meldet pflichtschuldigst, der Rest des Zuges sei „extrem ausgelastet”, auf deutsch: es gibt praktisch nur noch Stehplätze. Zum Glück findet sich mittendrin noch ein einzelner Sitzplatz für die Liebste, während ich mich bestenfalls irgendwo anlehnen kann, derweilen einige andere Gäste um ihre Reservierungen streiten. Zum Glück für mich wollen die Sieger dieser Auseinandersetzung in Fulda bereits wieder aussteigen. Jetzt heißt es also schnell sein, denn es spechten auch schon andere Leute auf die frei werdenden Plätze. Da diese anderen aber später zugestiegen sind, bin jetzt erst einmal ich an der Reihe, bitteschön.
Wo sind wir eigentlich? Die Kartenansicht im Smartphone zeigt einen wandernden Punkt auf einer Nebenstrecke. Und da kommt auch schon die Durchsage, dass die Hauptstrecke wegen eines liegen gebliebenen Flixtrain-Zuges gesperrt sei. Der Umweg trägt uns eine halbe Stunde Verspätung ein, aber wir haben ja für den Nachmittag ohnehin keine Pläne und können es uns sogar erlauben, nach unserer Ankunft in Hamburg samt Koffern noch einen kleinen Spaziergang an die Alster zu unternehmen, wenn auch nicht ganz freiwillig. Denn die Adresse hatte ich, weil sie nicht auf dem Voucher stand, der Website des Hotels entnommen. Nun, es ist wohl der Verwaltungssitz der Kette, das gebuchte Hotel befindet sich in der Nähe der Buslinie 112, die zum Glück auch hier an der Alster eine Haltestelle hat, leider aber jenseits einer ausgedehnten Baustelle, die uns nun schlammige Gehwege und einen Umweg aufzwingt. Und dann fährt uns auch noch der Bus vor der Nase weg. Aber schon 10 Minuten später kommt der nächste. Alles wird gut. Vom Ausstieg an der Albertstraße bis zum Hotel sind es nur noch ein paar hundert Meter. Von wem stammt eigentlich die bescheuerte Idee, rollkoffertaugliche Gehwege alle 50 Meter durch grob gepflasterte Torzufahrten zu unterbrechen?
Eigentlich hätten wir gestern schon in Hamburg eintreffen sollen, aber es hatte eine Terminüberschneidung mit dem Konzert in Bad Kissingen gegeben, und unter dem Strich war es dann vorteilhafter, die Pauschalreise unangetastet zu lassen und stattdessen eine zweite Bahnfahrt zu buchen. Dass wir verspätet eintreffen werden, hatte ich der Servicezentrale des Hotels bereits telefonisch durchgegeben. Für die Rezeptionistin war die Buchung dadurch aber unauffindbar geworden, zumal die Hotelkette gerade erst auf ein neues System umgestellt hatte. Wir werden also völlig neu angelegt, und erst gegen Ende des Eincheckens taucht dann auf mysteriöse Weise die ursprüngliche Buchung wieder auf, zu unserer Überraschung inklusive Frühstück. Davon stand zwar nichts auf dem Voucher, aber maßgeblich ist ja die Buchung und nicht das Papier.
Das Hotel „The NIU Yen” ist ein sehr fortschrittliches Budget-Hotel, was unsereiner schon daran erkennt, dass es neben den Betten Steckdosen mit USB-Anschlüssen gibt. Das Zimmer kann aber noch mit einer weiteren Annehmlichkeit aufwarten, nämlich dem Bluetooth-Lautsprechersystem: Smartphone koppeln, Wiedergabegerät auswählen, und schon ist für individuelle musikalische Unterhaltung gesorgt. Somit fehlt es an nichts, wenngleich etwas mehr Platz ganz angenehm wäre.
Aber wir sind ja nicht nach Hamburg gekommen, um im Hotelzimmer zu sitzen, sondern wegen eines Konzerts in der „Elphi”, also der Elbphilharmonie. Auf dem Programm stehen „Lux aeterna” von György Ligeti, ein aus dem Film „A Space Odyssee” bekanntes Stück für sechzehnstimmigen gemischten Chor a cappella, sowie Anton Bruckners Neunte Sinfonie, deren letzter Satz unvollendet blieb und deshalb auch nicht gespielt, sondern quasi durch das Ligeti-Stück ersetzt wird. Zu alledem gibt es einen Einführungsvortrag, ebenfalls im großen Saal, aber mit freier Platzwahl.
Unsere gebuchten Plätze 29 und 30 befinden sich in der vierten Reihe der Ebene 13i schräg links hinter dem Orchester, wir sehen den Dirigenten Kent Nagano also von vorne und den Musikern in die Notenblätter. Die Ränge des Großen Konzertsaals gruppieren sich weinbergartig um die Bühne, während über alledem ein halbrunder Reflektor hängt, der aussieht wie Raumschiff Orion mit ausgefahrenem Zentrallift – speziell wenn dieser dann auch noch nach oben eingezogen wird.
Da wir ja vor dem Konzert genug Zeit gehabt hatten, genossen wir vorab noch ein wenig die Aussicht von der Plaza, also der Plattform auf halber Höhe des einzigartigen Konzertbaus, und genehmigten uns auch noch ein Cola samt Strohhalm, denn Gläser sind hier pfandpflichtig, und wer will schon am Tresen Schlange stehen müssen, nur um sein Pfand zurückzubekommen? Es zeigt sich allerdings, dass der Inhalt der Colaflasche auf die Strohhalme reagiert, als wären sie aus derselben Masse wie Mentos-Kaubonbons, will heißen: das Getränk verläßt sofort eruptionsartig die Flasche.
Zur Elphi gelangt man übrigens am einfachsten mit der U3, aus der man an der Station Baumwall aus- und in unserem Fall am Hauptbahnhof einsteigt. Vorher müssen wir allerdings noch ein Stück weit die S3 bemühen, der dem Hotel nächst gelegene Bahnhof heißt Hammerbrook und ist wie der Baumwall ein Hochbahnhof, liegt also über der Straße. Das ist bei Regen recht praktisch, denn man läuft darunter ein Stück weit geschützt. Ganz ohne Regenschirm geht es aber trotzdem nicht.
Nach dem dritten Satz der Bruckner-Sinfonie bleibt es, wie vorab erbeten, ganz still im Saal, denn nun folgt als außergewöhnliches Werk der aus dem Off vorgetragene A-Cappella-Gesang des Lux aeterna, illuminiert von tausend kleinen Lichtquellen über den oberen Rängen. Die sieben Takte Pause am Ende sind Teil des Werkes, erst dann bricht tosender Applaus los. Was für ein Erlebnis!