Die Flåmbahn verbindet den kleinen Ort Flåm am Aurlandsfjord mit der Bergenbahn, also der Bahnstrecke von Oslo nach Bergen. Das war früher wichtig, um die Region am oberen Sognefjord mit dem Rest der Welt zu verbinden. Heute ist die 20 Kilometer lange Strecke, die auch einen enormen Höhenunterschied von 865 Metern überwindet, nur mehr eine Touristenattraktion. Die Bahnfahrt ist allerdings nicht Teil des Reiseprogramms. Für die Mitreisenden, die nicht 3 Stunden wartend herumstehen wollen, ist als Alternativprogramm ein Spaziergang auf dem Aurlandsvegen vorgesehen.
Nun gibt es jedoch ein Problem: der Aurlandsvegen ist ein Gebirgspaß, liegt auf 1.300 Meter Meereshöhe – und hat im Mai noch Wintersperre. Stefan, Busfahrer und Reiseleiter in Personalunion, schlägt daher vor, den Umweg über Flåm auszulassen, denn es ist noch ein weiter Weg von Fossestrand nach Oslo. Da hatte er jedoch die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn eine Handvoll Reisegäste bestanden darauf, die im Programm aufgeführte Option sei ein unverzichtbarer Reisebestandteil. In der Folge wurden Fahrpläne gewälzt und telefoniert, sowohl mit der Bahngesellschaft (gibt es überhaupt noch Karten?) als auch mit dem Büro des Reiseveranstalters (bei nur 3 Interessenten entfällt die Flåmbahn). Das Ende vom Lied war schließlich: die Fahrt findet statt.
Und so sitzen wir, das Grüppchen ist auf 10 Personen angewachsen, pünktlich um ½10 Uhr auf roten Plüschsesseln in einem der historischen grünen Waggons, um die einstündige Fahrt hinauf nach Myrdal zu erleben. Die rechte Seite sei die schönere, empfahl die Ticketverkäuferin. Und recht hatte sie: von rechts sieht man auf das Tal, auf den Wasserfall gegenüber und auf die 21 Kehren der Straße, die für den Bau der Bahnlinie angelegt wurde und heute eine beliebte Wander- und Bikestrecke ist, denn sie ist schmal und unbefestigt und für Autos ungeeignet.
Vom Wasserfall Kjosfossen wiederum werden alle etwas haben, hieß es, denn der Zug hält dort für ein paar Minuten an, damit alle aussteigen und das gewaltige Tosen aus der Nähe bestaunen können. Dass die die Plattform glitschig sein könne, wird vorab gewarnt, und dass man sich zum Schutz vor der Gischt Regenzeug überwerfen sollte.
Der Zug hält an, alles steigt aus – aber wo ist der Wasserfall? Ungläubig staunend stehen Dutzende von Fahrgästen, die hier den Höhepunkt der nicht ganz billigen Bahnfahrt erwartet hatten, vor einer trockenen Felswand. Kein Wasserfall! Hinter einer Hausruine tritt nun zwar eine rot gewandete Fee hervor und wiegt sich tanzend zur Musik aus dem Off, aber auch sie kann das Wasser nicht herbeizaubern. Und so setzt der Zug seine Fahrt ohne die Hauptattraktion fort nach Myrdal, wo fast alle Fahrgäste den Zug verlassen, während andere zusteigen. Unser Zeitfenster gibt dergleichen nicht her, deshalb bleiben wir sitzen und erleben bei der Rückfahrt die Attraktionen noch einmal in umgekehrter Reihenfolge: den unsichtbaren Wasserfall samt Fee, die 21 Kehren der unbefestigten Paßstraße, das Tal mit den verstreuten kleinen Höfen, den Wasserfall am Berghang gegenüber und schließlich den Bahnhof von Flåm, wo der Bus wartet.
Der kleine Ort ist heute auf vier Arten erreichbar: mit dem Fjordschiff, mit der Flãmbahn, im kurzen nordischen Sommer über den Gebirgspass sowie ganz neu durch zwei Tunnel, von denen der Lærdalstunnel knapp 25 Kilometer lang ist – der längste Straßentunnel der Welt.
Über die restliche Fahrtstrecke nach Oslo gibt es nicht viel zu berichten. Wir queren einen über 1100 Meter hohen Gebirgspass, sehen diverse Skibergsteiger, die sich an der teilweise noch geschlossenen Schneedecke erfreuen, durchqueren eine allmählich immer grüner werdende Landschaft mit blühenden Bäumen und auch sonst allerlei Natur, und sind pünktlich zum Abendessen im Hotel.