Ein Lost Place

Der Wegweiser zum Berggasthaus „Chalet Milchbach“ unweit der Bushaltestelle „Oberer Gletscher“ trägt den dezenten Hinweis „derzeit geschlossen“. Was nach Renovierung klingt, ist in Wirklichkeit eine Tragödie. Denn der kleine Gasthof hat seine Attraktion verloren: den Gletscher.

Ich war vor rund 35 Jahren schon einmal dort oben. Wegen der Eisgrotte: man konnte ein Stück weit in das grünblaue Gletschereis hineingehen und die faszinierende Lichtstimmung genießen. Damals war der Gletscher im Vorstoß begriffen, heute hat er sich jedoch so weit in die Schlucht hinauf zurückgezogen, daß vom Chalet aus kein Eis mehr zu sehen, geschweige denn zu erreichen ist.

Dennoch hat sich die Mühe des Aufstiegs gelohnt. Denn das Chalet hat sich seit seiner Schließung zu einem typischen „Lost Place“ entwickelt: das Fenster des SB-Schalters verrammelt, der Fußboden der Aussichtsterrasse durchgebrochen, der kleine Spielplatz, zu dem noch eine Rutsche hinabführt, mit Gestrüpp überwuchert. Es gibt noch das Drehkreuz, das einst irgendeinen Zugang geregelt hat. Natürlich, zur Eisgrotte. Ein Blick in die 100 Meter tiefe und mindestens ebenso breite Schlucht führt eindrücklich vor Augen, wie gewaltig die verschwundene Eismasse einst gewesen ist.

Der Aufstieg hier herauf war einer jener typischen Wege, bei denen man immer glaubt, an der nächsten Kurve das Ziel erspähen zu können, dann aber beim Erreichen derselben lediglich bis zu einer weiteren Kurve sehen kann, die nun aber ganz sicher die Stelle ist, von der aus man das Ziel sehen kann. Drauf und dran umzukehren erblicke ich einen Mann, den ich fragen kann. „Es ist gleich da oben“, sagt er, „ich weiß das, weil es gehört mir.“

Ein Gasthaus an einem Ort zu besitzen, der 100 Jahre lang ein spektakuläres Schauspiel bot, und den nun niemand mehr besuchen will, ist wahrlich ein trauriges Schicksal. Aber vielleicht wachsen die Gletscher ja eines Tages wieder.

Heute morgen waren wir noch im Grindelwalder Ortsteil Itramen unterwegs. Das ist eine Streusiedlung, die sich den südwestlichen Berghang hinaufzieht und von einer Ortsbuslinie erschlossen ist. Und das, obwohl die Straße stellenweise kaum breiter ist als der Bus. Man kann, wenn man wetterbedingt keine Lust auf große Bergtouren hat, dort oben herumwandern und den Blick über ganz Grindelwald schweifen lassen. Und ebenso über die Berge, die es umrahmen. Falls sie ihre Häupter nicht gerade dezent hinter Wolkenschleiern verbergen.

Category: Allgemein, Schweiz 2021
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