Es gibt Weltgegenden, von denen man nicht im Traum auf die Idee kommt, dass man sie jemals in seinem Leben real zu Gesicht bekommen wird. Dazu gehört der Nordpol. Aber davon später. Zunächst einmal gilt es, den Heimflug überhaupt zu erreichen. Und das ist gar nicht so einfach, denn Tokio ist eine sehr große Stadt und hat auch einen sehr großen Flughafen, mit drei Terminals und viel Japan dazwischen.
Ursprünglich sollten wir ja von Osaka direkt nach München fliegen. Warum nun doch über Tokio, weiß nur der Veranstalter. Und der war es auch, der für unser Umsteigen gerade einmal 75 Minuten eingeplant hat. Zum Glück hat der Online-Check-in nach mehreren Anläufen gestern dann doch noch geklappt, und zwar für beide Flüge, so dass auch der Weitertransport unseres Gepäcks gesichert war. Aber davon ebenfalls später.
Reiseleiterin Maya Odawara Wendel, wir nennen sie Maya-san, fängt ihre Gruppe am Ende des Flugsteigs ein, dort wo sich die Wege für inländische und internationale Flüge trennen. Auf uns allein gestellt, wären wir natürlich den letzteren Weg gelaufen, sie jedoch führt uns ortskundig den anderen Weg hinaus zu den Bushaltebuchten und zum Shuttle-Bus Nummer 9, denn der dreht seine Runde durch alle Terminals, von T2 auf öffentlichen Straßen hinüber nach T1, dann weiter nach T3, wo unser Weiterflug startet, und schließlich wieder zurück nach T2. Im Terminal geht es für uns dann zunächst hinauf in die große Halle und dann nach Anweisung einer der allgegenwärtigen Ordnungskräfte irgendwo hinein in die große Warteschlange vor dem Security-Check. Ab hier sind wir nun auf uns allein gestellt.
Noch 10 Minuten bis zu Boarding Time, und wir stehen noch immer in der Schlange für die Kontrolle der Bordkarten. Und dann nochmal vor dem Handgepäck-Scannern, aber das geht gottlob recht flott, und die Passkontrolle sogar noch flotter. Wir müssen zum Gate 145, und die Nummern beginnen mit 111. Ob wir wirklich bis ganz nach dort hinten…? Ja, wir müssen, und hinter dem Knick sogar noch ein Stück weiter. Endlich angekommen, wird unsere Reihe auch schon aufgerufen. Das war ja wirklich knapp. Noch ein rascher Vergleich der Bordkarten mit den zugehörigen Reisepässen, und: mööp! Man bittet uns für eine zufällige Stichprobe zur Seite. Ausgiebiges Tippen und Vergleichen, dann sind wir freigegeben und gehen so ziemlich als letzte an Bord: ein Fenster- und ein Mittelplatz gleich hinter den Tragflächen. Dort ist es zwar laut, dafür aber mit Sicht. Doch davon später.
Dass zur Zeit nicht über Russland geflogen werden kann, verlängert die Flugroute nach Japan beträchtlich. Gekommen sind wir über die Türkei, das Kaspische Meer, diverse Stan-Länder, China und Südkorea, insgesamt gute 13.000 Kilometer. Nun aber hält der Pilot strikt in eine nordöstliche Richtung. Will er etwa über Nordamerika fliegen? Plausibel wäre das durchaus, denn die in unseren Breitengraden meistens vorherrschende Strömung hilft zwar beim Fliegen von West nach Ost und addiert sich zur Geschwindigkeit, rückzu hätte man allerdings viel Gegenwind.
Nun liegt also der Alëutenbogen unter uns, und das Meer sieht etwas anders aus als sonst, denn es ist mit großen Eisschollen bedeckt. Und dann kommt der Moment, wo klar wird: wir fliegen nicht über Kanada, sondern geradewegs über den Nordpol.
Beim Nordpolarmeer handelt es sich allerdings um eine eher langweilige Gegend. Nördlich der Beringstraße faszinieren zwar noch die langen Wolkenschatten, die auf eine tief stehende Sonne hindeuten. Wir sitzen nämlich rechts, und die Sonne steht links. Direkt am Nordpol müßte die Sonne seit Ende März dauerhaft über dem Horizont stehen, so meine Überlegung. Und ein Haus, direkt auf den Nordpol gebaut, hätte in alle Richtungen nur Südfenster. Aber wo genau ist der Nordpol? Die Fluginfo gibt darüber keine Auskunft.
Endlich finde ich im Bildschirm vor mir den Kompass. Und der zeigt fast genau nach Norden. Verpaßt haben wir den Pol also noch nicht, wobei das Eis ohnehin, von gelegentlichen Spalten abgesehen, immer gleich aussieht. Die Südfenster-Geschichte bringt mich aber auf die Idee, fortan einfach auf die Flugrichtung zu achten. Tatsächlich dreht der Pfeil nun immer mehr nach links, wir werden den Pol also mit etwas Abstand rechts passieren. Wie viel Abstand? Nun, zwischen der 45°-Peilung und der entscheidenden 90°-Peilung liegt eine Flugstrecke, die als zweite Kathete eines gleichschenkligen Dreiecks … Mathematik ist zu nachtschlafender Zeit nicht jedermanns Sache, deshalb nur so viel: es sind weniger als 300 Kilometer oder, in Breitengraden ausgedrückt, wir bewegen uns bei 87,5° Nord. Der berühmte Polarforscher Fridtjof Nansen kam übrigens 1895 und auch später nie näher als 400 km an den Pol heran. Aber der hatte ja auch kein Großraumflugzeug.
Warum unser Check-in gestern so schwierig war? Nun, das Buchungssystem der Lufthansa hat offenbar Schwierigkeiten mit Vornamen, die das Limit von 20 Zeichen sprengen, wie das bei Thea eben der Fall ist. Die gekürzte Eingabe stimmt dann nicht mit den hinterlegten Daten überein. Als wir mit meinen Daten versuchten, klappte es, und beim Hinzufügen des zweiten Passagiers war das Namensfeld dann unlimitiert. Jedoch brach just in diesem Moment das WLAN des Hotels kurzzeitig zusammen, und für einen zweiten Versuch blieb keine Zeit mehr. Von unterwegs mit mobilen Daten einchecken? Dieses Mal war es das Datenlimit der Telekom, das dem Versuch ein Ende setzte. Zurück im Hotel konnten wir dann jedoch alles normal abwickeln: freie Platzwahl bei der ANA, vorab festgelegte Plätze bei der Lufthansa. Zum Glück sind es gute Plätze, denn was sich nach dem Passieren des Nordpols in der Tiefe zeigt, ist schlicht sensationell: wir überfliegen den Norden Grönlands. Und diese Weltgegend ist mit ihren in den Fjorden eingefrorenen Eisschollen alles andere als langweilig.
Am Nachmittag eines langen Tages mit vielen seltsamen Zeitsprüngen, es war bei Alaska schon einmal fast Mitternacht, erreichen wir schließlich München, von wo es nun mit dem Zug weitergeht. Wir haben, Hin- und Rückreise betrachtet, alle 24 Zeitzonen durchflogen und beim Überqueren der Datumslinie theoretisch einen Tag hinzu gewonnen, aber mit dem Tageslicht und den Uhrzeiten ist das in der Polregion so eine Sache, und auch viele unserer Fotos tragen Koordinaten, die außerhalb der üblichen Kartenbilder liegen.